Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918

Abschnitt 4: Ankunft in Petrovskoye, Kontakt mit Kosaken

[5-7]
Ich wurde gleich wieder eingeladen, aber ich musste am anderen Tage weiter und zwar 140 km nach Selo-Petrowskoje1. Wir sammelten uns - ungefähr 20 Mann - mieteten einen Wagen, und luden unser Gepäck darauf; wir selber gingen zu Fuss. Unser Marsch war wunderbar bei sehr schönem Wetter. Die erste Nacht schliefen wir in einem Kosakendorf, und zwar im Spritzenhaus. Anderntags trennte sich ein Trupp, und wir blieben noch 5 Mann. Wir gingen täglich 40 km. Die 2. Nacht übernachteten wir auch in einem Kosakendorf, und zwar in einer angeblichen Wirtschaft, welche aber mehr einer Rumpelkammer ähnlich sah. Der Wirt - mit einem Stelzfuss - kam uns vor wie ein alter Räuberhauptmann. Das Abends besprachen wir uns, dass immer jemand die Nacht über wachen sollte, denn wir merkten, als wir ankamen, dass die Bevölkerung uns nicht gut gesinnt war, auch gefiel uns der Wirt nicht. Bevor wir uns hinlegten sprachen wir mit dem Wirt wegen eines Fuhrwerks bis zu unserem Endziel, es waren dies noch ca. 60 km. Er versprach uns zum Preise von 20 Rubel = 40 Mark nach dorten zu fahren. Am anderen Morgen - einem Regentag - erschien er und meldete uns, dass er fahren wollte, aber für 80 Mark; ausserdem sagte er, wäre es die höchste Zeit, dass wir das Dorf verlassen, denn die Bauern hätten unter sich beschlossen, uns tot zu stechen. Nun machten wir uns auf die Flucht, und verliessen heimlich das Dorf. Wir passierten nun kein Dorf mehr, sondern schlichen uns um die Ortschaften herum. Des Abends als wir nicht mehr weiter [S. 6] konnten, und durchnässt bis auf die Haut waren, frugen wir bei einem alten Bauer (Alexandrowka) an, welcher uns sehr freundlich aufnahm. Wir trockneten unsere Kleider, und reinigten uns: unterdessen bereitete uns die Wirtin Tee, Eier und Brod, und wir setzten uns nieder und assen.

Da gerade des anderen Tages (es war ein Freitag) in Selo-Petrowskoje Markttag war, erklärte sich der Bauer bereit, uns mitzunehmen, und zwar wir alle 5 Personen für 6 Mark. Wir fuhren morgens 6 Uhr ab und kamen mittags gegen 12 Uhr dorten an. Kurz bevor wir den Ort passierten hatte ich das Vergnügen vom Fuhrwerk, als wir einen kleinen Fluss passierten, ins Wasser zu fallen. Zuerst begaben wir uns in eine Teebude um uns etwas zu stärken, und dann gingen wir zum Polizei-Kommissar um unser Gepäck, das bei ihm im Verwahr lag, zu holen. Als wir zum Polizeiamt kamen, wollte uns der Kommissar - ein früherer Jude aus Warschau - wieder weiter senden, doch ein Bauer, der mich vorher angesprochen hatte und mir Quartier anbot, ging mit uns, legte ein gutes Wort ein, und wie konnten bleiben. Wir richteten uns gemütlich ein; aber welche Entdeckung mussten wir machen ? mein Handkoffer war erbrochen, es fehlte eine silberne Uhr mit goldener Kette, ein Rasierapparat, ein silbernes Besteck, ein neues Portemonnaie (Inhalt 40 Mark) zwei neue weisse Hemden und zwei goldene Ringe; einem andere Herrn fehlte das ganze Gepäck, und so fehlte jedem etwas anderes. Wir gingen nun zum Kommissar und erklärten ihm die Sache, er aber lächelte spöttig und meinte: vielleicht haben die Zigeuner die Sachen gestohlen. Es waren ca. 13 Herren, die bestohlen worden waren. (Der Dieb war der Kommissar). Dadurch, dass wir uns beschwert hatten, war unser Stand bei ihm ein schlechter geworden. Wir mussten jeden Abend um 5 Uhr uns polizeilich melden, durften nicht Karten spielen, mehr als 3 Mann durften nicht zusammen auf der Strasse gehen, ferner war das Verlassen des Dorfes verboten. Nach 3 Tagen wurden wir alle, etwa 500 Mann, zum Kommissar bestellt; er sah sich jeden genau an, erkundigte sich wie [S. 7] viel Geld er habe, und schickte jeden, der ihm nicht gefiel, weiter.


  1. Wohl das heutige Semeno-Petrovskoye [Семено-Ретровское], etwa 190 (Straßen-)Kilometer nördlich Orenburg.

Personen: Heep, August
Orte: Selo-Petrovskoye · Semeno-Petrovskoye · Orenburg · Warschau
Sachbegriffe: Kosaken · Bauern · Polizeiämter · Korruption · Kommissare · Diebstähle · Juden
Empfohlene Zitierweise: „Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918, Abschnitt 9: Ankunft in Petrovskoye, Kontakt mit Kosaken“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/122-4> (aufgerufen am 16.04.2024)