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Betriebsgenehmigung für Hanauer Nuklearfabrik NUKEM ausgesetzt, 14. Januar 1988

Bundesumweltminister Klaus Töpfer (geb. 1938; CDU) weist die hessische Landesregierung an, die Betriebsgenehmigung für die Hanauer Nuklearfabrik NUKEM auszusetzen, nachdem dort schwerwiegende Unregelmäßigkeiten entdeckt worden sind. Die Nukem-Tochtergesellschaft Transnuklear transportierte jahrelang fehlerhaft deklarierten Atommüll in das Studienzentrum für Kernenergie in der belgischen Stadt Mol und erhielt von dort ebenfalls falsch deklarierte Fässer mit hoch radioaktivem Inhalt zurück, die illegal nach Deutschland gebracht wurden. Das im Bereich Kerntechnik tätige Unternehmen, das am 1. April 1960 als „Nuklear-Chemie und -Metallurgie GmbH“ mit einem Stammkapital von vier Millionen DM von den drei Gesellschaftern Degussa, Rio Tinto und Mallinckrodt gegründet worden war, verliert seine Betriebsgenehmigung wegen unerlaubter Lagerung von Atommüllfässern und erheblichen Zweifeln an der atomrechtlich gebotenen Zuverlässigkeit seines Geschäftsbetriebs.

Der amtierende hessische Ministerpräsident Walter Wallmann (1932–2013; CDU) fordert in Wiesbaden die Gesellschafter der Unternehmen auf, die Geschäftsführer, die zuständigen Strahlenschutzbeauftragten und weitere verantwortliche Mitarbeiter zu suspendieren.

Jahrelang ein illegaler Abfallkreislauf und Bestechungsgelder in Millionenhöhe

Nach einer „Vorläufigen Feststellung“ des Hessischen Ministers für Umwelt und Reaktorsicherheit, Karlheinz Weimar (geb. 1950; CDU), hat die Firma Nukem bzw. das Tochterunternehmen Transnuklear in den Jahren 1982 bis 1985 Material aus dem Kontrollbereich des Strahlenschutzbereiches zerkleinert und das Material gemessen, um es anschließend in das Kernenergie-Zentrum nach Mol zu senden. Nach den Ergebnissen dieser Messungen war das Material hoch angereichert mit dem radioaktiven Isotop Uran 235 und hätte als Kernbrennstoff deklariert werden müssen. Interne Richtlinien der Firma Nukem, sahen vor die Kennzeichnungspflicht und die damit verbundenen Auflagen bei der Verarbeitung in Mol durch eine Vermischung mit abgereichertem Uran 238 einzuhalten. Diese Richtlinien sowie der gesamte Vorgang wurden der Aufsichtsbehörde nicht gemeldet. Nachdem die Abfälle in Mol „konditioniert“, das heißt in eine endlagerfähige Form gebracht worden waren, erfolgte 1985 der Rücktransport in 50 Fässern mit Reststoffe. In der Firma Nukem erfolgte nach der Ankunft der Fässer eine erneute Überprüfungsmessung, wobei festgestellt wurde, daß in 26 Fässern die Isotope Cäsium 137 und Kobalt enthalten waren. Diese Stoffe konnten nicht aus dem ursprünglich nach Mol gelieferten Material stammen.

Um diese kriminellen Geschäftspraktiken aufrecht zu erhalten, zahlte Transnuklear Bestechungsgelder in einer Gesamthöhe von 21 Millionen DM an nahezu alle Beteiligten des illegalen Abfallkreislaufs. Unter den bestochenen Angestellten bundesdeutscher Atomkraftwerke und Energieversorgungsunternehmen sowie des belgischen Kernforschungszentrums befinden sich viele Sicherheitsbeauftragte von Atomkraftanlagen.

Aufdeckung durch einen gewissenhaften Geschäftsführer

Den Anstoß zur Aufdeckung der Vorgänge lieferte in der zweiten Märzwoche 1987 der damals neu eingestellte kaufmännische Geschäftsführer von Transnuklear, Hans Joachim Fischer, der das Management des Unternehmens und die Mutterfirma Nukem über Unregelmäßigkeiten in den Abrechnungen informierte (darunter der damalige Aufsichtsratsvorsitzende der Nukem Franz-Josef Spalthoff (1923–2004), seit Ende der 1970er Jahre als Vorstandsmitglied der RWE einer der führenden deutschen Manager in der Energiewirtschaft, und sein Stellvertreter Degussa-Chef Gert Becker (geb. 1933)). Demnach waren zwischen 1981 und 1986 von der Abteilung Radioaktive Abfälle fünf bis sechs Millionen Mark Schmiergelder gezahlt oder unterschlagen worden. Fischer beabsichtigte, eine Selbstanzeige beim zuständigen Finanzamt oder bei der Hanauer Staatsanwaltschaft einzureichen, doch gelang es Mitarbeitern der Degussa, über wiederholte Interventionen ihrer Steuerabteilung die Selbstanzeige um gut vier Wochen hinauszuzögern.1 Die Selbstanzeige erfolgte am 7. April 1987, genau einen Monat, nachdem Fischer über das Ergebnis der Prüfung fragwürdiger Belege und Buchungen aus den Jahren 1981 bis 1986 informiert worden war. Offenkundig sollte das Bekanntwerden der Affäre über das Datum der hessischen Landtagswahl hinausgeschoben werden, die eine knappe Mehrheit für eine schwarz-gelbe Koalition brachte und Walter Wallmann zum ersten CDU-Ministerpräsidenten in Hessen machte.
(KU)


  1. Vgl. dazu Einzelheiten in: DER SPIEGEL 4/1988, 25.1.1988, S. 25-28: Auf kleiner Flamme abkochen: Die Verstrickungen des Degussa-Konzerns in den Hanauer Atomskandal, hier: S. 27 f.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Betriebsgenehmigung für Hanauer Nuklearfabrik NUKEM ausgesetzt, 14. Januar 1988“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/1547> (Stand: 26.11.2022)
Ereignisse im Dezember 1987 | Januar 1988 | Februar 1988
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