Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Theodor Birt, Vor der Entscheidung! Lazarett-Ansprache, 1917

Abschnitt 2: Der Kaiser standhaft in einer Welt von Feinden

[5-7] Dies Vertrauen ist unendlich wichtig. Hindenburg steht, Joffre ist gefallen. In Rußland fliegen die Minister dutzendweise, wie die Halme unter der Sense, von den Ministerstühlen. Auch der Grey ist weg, diese englische Spinne; die Delcassé, Salandra in Frankreich, in Italien, verschollen und vergessen.

Man vergleiche einmal unseren Kaiser mit dem Zaren in Petersburg, mit dem König von England, diesen Gliederpuppen, die sich nur notdürftig bewegen, wenn man sie am Faden zieht, oder mit dem König von Italien, Vittorio Emanuele, il re, den der Pöbel Roms, die Politik der Gasse zwang, unserm Kaiser sein Wort zu brechen. Einmal ist, soviel ich weiß, der König von England nach Frankreich an die Front gekommen. Er wollte da eine Parade abnehmen — welche Kühnheit! fiel aber vom Gaule und sitzt jetzt still in seinem [S. 6] großen Palast, als ob er noch immer seinen Fuß kurierte. Mit welchem Stolz blicken wir da auf unseren Kaiser Wilhelm; er ist ein ganzer Mann, der laut für uns das Wort ergreift, und die Welt hört darauf. Er hat den Mut der eigenen Meinung. Das haben wir eben jetzt, in den letzten Wochen, von neuem und mit wahrer Herzensfreude gesehen.

Warum können die Völker nicht in Frieden miteinander leben? „Raum für alle hat die Erde", sagt unser Dichter Schiller. Der Erdball ist groß. Wenn man die Erdkugel herumdreht, da liegen und strecken sich, außer dem kleinen Europa, die anderen vier Weltteile, drei davon in riesenhafter Größe. Aber nicht nur Europa, auch Asien, Afrika, Australien, auch der nördlichste Teil von Amerika ist mit in diesen Krieg gerissen. Ja, wer weiß? Das ganze Nordamerika mit Wilson, diesem großen Friedensheuchler, an der Spitze wird sich auch noch hineinmischen.

Rußland hat Sibirien, etwa ein Drittel von Asien, in Händen. Es kann sein unermeßliches Reich gar nicht bevölkern und ausnützen. Warum also kämpft es noch? Es will in Europa Häfen haben, Konstantinopel, womöglich auch noch unser Danzig. Das ist begreiflich, aber es paßt uns nicht.

Frankreich ist an Bevölkerung so schwach, daß es [S. 7] für seinen Ehrgeiz in seinen Kolonien überreichlich Raum hätte; aber es will die Rheingrenze haben, Straßburg, Köln und Mainz. Warum? Weil der Franzose schon irgendwann einmal früher bis dahin vorgedrungen war, das linke Rheinufer in Händen hatte. Nun aber gar England, das Indien, das Kanada, Kapland, Australien besitzt; es hat in Europa gar nichts zu suchen. Es kann in Indien Reis und Tee bauen, in Afrika Gold graben; von den Schafherden Australiens bezieht es an 100 Millionen Kilogramm Wolle im Jahr; Quellen des Reichtums genug! Dabei läßt der Engländer überall die Eingeborenen die Arbeit tun; er selbst rechnet nur und legt nicht Hand an; das hat er nicht nötig; die Londoner Kapitalistengruppen beherrschen das englische Reich und machen die Politik. Warum genügt ihnen das nicht? Es ist einmal so in dieser Welt: der Kleine bleibt klein, der Große ist freßgierig und wird immer größer.


Personen: Birt, Theodor
Empfohlene Zitierweise: „Theodor Birt, Vor der Entscheidung! Lazarett-Ansprache, 1917, Abschnitt 2: Der Kaiser standhaft in einer Welt von Feinden“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/119-2> (aufgerufen am 16.04.2024)