Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Heinrich Höhle, Kriegstagebuch eines Lehrers aus Landau, 1914-1919

Abschnitt 3: Ausmarsch des Arolser Infanterie-Bataillons III/83

[13-14] Sonntag, den 2. Aug. halte ich Lesegottesdienst hier, da Herr Stripecke auf den Filialdörfern das Abendmahl austeilt: Lütersheim, Bühle u. Volkhardinghausen. Da ich keine passende Predigt im Buche habe, lese ich die Kriegspsalmen vor. Mein lieber Schwager Lehrer Ludwig Ladage Korbach spielt die Orgel. Die Gemeinde singt: „Befiehl du deine Wege."

Am Nachmittage gehen meine Frau u. ich nach Arolsen, um den Ausmarsch unserer 83er1 in Feindesland zu sehen. In Arolsen auf dem Kasernenhofe war reges Leben. Die Soldaten in neuer feldgrauer Uniform, in neuen gelben Stiefeln mit Mütze kamen u. gingen, standen u. unterhielten sich, rauchten u. trieben Scherze. An den Ernst des Krieges erinnerten aber die bereitstehenden Munitions-, Sanitäts- u. Bagagewagen. Dazu kamen die Feldküchen.

In der großen Allee wogte eine gewaltige Menschenmenge, die Angehörigen der jungen Krieger. Durch das Eisengitter um den Kasernenhof durfte man noch manchem die Hand zum Abschied drücken. Da erblickten wir auch meinen lieben [S. 14] Freund Karl Jungermann, Lehrer aus Braunsen. Er hatte mir durch Boten einen Brief übersand, indem er mich als seinen treuen Freund bat, für seine Frau u. sein wenige Wochen altes nun krankes Kind zu sorgen, wenn er auszog.

Ich durfte ihm hier die Hand noch einmal drücken u. versprechen, seine letzten Wünsche gern u. treu zu erfüllen. Mit einem geborgten Rade fuhr ich nun mal rasch zum Bahnhof. Welches Bild! Ein langer Zug stand bereit, davor die Lokomotive, eigentümlich zischend, jeden Augenblick fertig zur Abfahrt.

Zurückgekehrt in die Allee, traf ich mit meiner Frau meinen lieben Schwager Ludwig, der auch bald eingezogen wurde, mit Elise u. Helmut. Wir begleiteten sie zum Bahnhof. Dort wurden in einen besonderen Zug die Pferde verladen. Die Einladung ging glatt von statten, während Hauptmann v. Buttlar die Tiere beruhigend auf den Hals klopfte. Schon standen flache Eisenbahnwagen bereit. Auf ihnen erblickte man die Munitionswagen u.s.w. Der Sanitätswagen mit dem roten Kreuz u. der wehenden Fahne erweckte besondere Gefühle. Die ganze Verladung erfolgte so ruhig, gleichmäßig u. sicher, daß ich gar nicht denken konnte, es wäre ernst mit dem Kriege. Ich glaubte, es müßte alles hastig geschehen, sah aber hier ein, daß nur die Ruhe alles bringen kann.

Als wir nun nach der Kaserne zurückgingen, war dort gerade die Fahne der 83er vom Schloß zur Kaserne geholt worden. S[eine] D[urchlaucht] der Fürst Friedrich2 hielt eine Ansprache an das im Viereck aufgestellt zum Abmarsch fertige Arolser Bataillon. Er wies auf die 44jährige Friedenszeit hin u. ermahnt die Soldaten, sich ihrer Väter, die 1870/71 kämpften, würdig zu zeigen. Er selbst habe S[eine] M[ajestät] den Kaiser Wilhelm II. gebeten, ihm zu gestatten, in der Nähe seiner Truppen sein zu dürfen. Sein Sohn, der Erbprinz Josias werde als Ordonnanzoffizier am Kampfe teilnehmen. Ein Hurra auf S[eine] M[ajestät] schloß die Ansprache, worauf die Militärmusik spielte: „Heil Dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, heil Kaiser Dir."

Oberst Borsig, der Bataillonskommandeur, ergriff das Wort ganz kurz u. schloß mit Hurra auf S[eine] D[urchlaucht]den Fürsten.

Nun erschollen einzelne Kommandos, u. das Bataillon begann seinen Ausmarsch unter den Klängen der Marschmusik u. den Hurrarufen der Zuschauer. Der Zug ging vor das Schloß u. dann durch die Stadt zum Bahnhof u. war mit seinen 1000 Soldaten fast 1 km lang. Am Bahnhof konnten wir unsern Bekannten zum letztenmal die Hand drücken u. zwar dem Flügelmann des Bataillons, dem großen Christian Behr Kilmer, seinem Bruder Konrad Behr, Karl Berges aus Landau u. Heinrich Sagel aus Alraft. Bald steigen unsere Krieger in den Zug, nachdem sie von ihren Lieben endgültig Abschied genommen haben. Hinter mir er¬tönt eine Stimme einer Frau: „Der Fahnenträger kommt auch nicht wieder aus dem Kriege." Ich kenne ihn den Unteroffizier Brand aus Braunsen u. entgegne: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich; wir wollen sehen." (Er ist tatsächlich gesund wieder aus dem Kampfe zurückgekehrt). Vor uns ist ein Wagen II. Kl. für die Offiziere. Sie verabschieden sich von den Ihrigen u. auch vom Fürsten u. der Fürstin. Von den Offizieren ist mir Leutnant Paul Rösener bekannt, der Sohn unseres Kreisamtmanns. Er steht am Wagenfenster u. winkt die letzten Abschiedsgrüße. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung u. das Lied erklingt: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall." Der verdunkelte Zug fährt in der Richtung nach Marburg.


  1. In Arolsen war das III. Bataillon des Infanterie-Regiments von Wittich (3. Kurhessisches) Nr. 83 stationiert, dessen Stab und die Bataillone I und II von Kassel aus in den Krieg zogen.
  2. Friedrich Fürst von Waldeck-Pyrmont (1865-1946), letzter Fürst von Waldeck 1893-1918.

Personen: Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser · Höhle, Heinrich · Stripecke, Karl · Ladage, Ludwig · Jungermann, Karl · Buttlar, Hauptmann von · Waldeck-Pyrmont, Friedrich Fürst von · Waldeck-Pyrmont, Josias Erbprinz von · Behr, Christian · Behr, Konrad · Berges, Karl · Sagel, Heinrich · Borsig, Oberst
Orte: Landau · Lütersheim · Bühle · Volkhardinghausen · Korbach · Alraft · Arolsen · Braunsen · Marburg
Sachbegriffe: Wacht am Rhein · Gottesdienste · Infanterie-Regiment Nr. 83 · Kasernen · Soldaten · Feldgrau · Bagage · Munitionswagen · Sanitätswagen · Feldküchen · Bahnhöfe · Pferde · Rotes Kreuz · Fahnen · Ordonannzoffiziere · Militärmusik · Heil Dir im Siegerkranz · Offiziere · Leutnante · Truppentransporte · Deutsch-Französischer Krieg 1870-1871
Empfohlene Zitierweise: „Heinrich Höhle, Kriegstagebuch eines Lehrers aus Landau, 1914-1919, Abschnitt 14: Ausmarsch des Arolser Infanterie-Bataillons III/83“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/15-3> (aufgerufen am 23.04.2024)