Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918

Abschnitt 11: Erinnerungen an das Kriegsende

[50-53] Erinnerungen an das Kriegsende

Ich erinnere mich, daß die Soldaten zurückkamen und von der Bevölkerung gut behandelt wurden. Ich denke an einen Artilleriesoldaten, der mit Pferden und Wagen einquartiert wurde. Wir hatten einige Pferde in der Scheune stehen, und die Mutter bot dem Soldaten an, ihm ein frisches Bett zum Schlafen zu geben. Er machte einen guten, sauberen Eindruck. Am nächsten Morgen stellten wir entsetzt fest, daß eine Wanze im Bett krabbelte. Mutter war ratlos, denn sie hatte von der Gefahr gehört, daß Wanzen sich rasch ausbreiten und dann schwer zu entfernen sind. Kurz entschlossen steckte sie die ganze Wäsche in den großen Kessel, den wir Settekessel nannten und der mit einer Ziegelummauerung in der Küche stand. Es ging noch einmal gut. Unserem Soldaten, der sich sehr entschuldigte, und dem die Wanze sichtlich peinlich war, sind wir nicht weiter gram gewesen. [S. 51]

Leider konnte der amerikanische Präsident Wilson sein Vierzehn-Punkte-Programm nicht durchsetzen. Dafür waren die Forderungen der anderen Alliierten, die teilweise empfindliche Opfer gebracht und den Krieg im eigenen Land gehabt hatten, zu hoch, zu verschieden und zu weitgehend - wenn auch in einer Reihe von Fällen verständlich. Ich kann mich entsinnen, daß die Forderung, den Kaiser auszuliefern, im Dorf teilweise entrüstet aufgenommen wurde. Man konnte nicht verstehen, daß dieser nach Holland ins Exil gegangen war. Überhaupt hatte es eine Weile gedauert, bis man die revolutionären Ereignisse im Berlin des November 1918 begriffen hatte. [S. 52]

Wenn man dieses ganze Maß des angerichteten Schadens übersieht und darüber nachdenkt, überkommt jeden vernünftigen Menschen die Wut, daß Dilettanten meistens adeligen Geblüts, fahrlässig 1914 die Katastrophe nicht abwendeten. Daß die Sieger unsere Militärs beschuldigten, den Krieg angezettelt zu haben, trifft für ihren Teil zu. Wahr ist es aber auch, daß sie es nicht allein waren; die Militärs waren in allen Staaten Europas, die am Krieg teilgenommen hatten, gleich. Sowohl im Osten wie im Westen stocherten sie so lange, bis der Kriegsbrand entfacht war. Jeder glaubte, überlegen zu sein, der eine durch die Masse, der andere durch seine eingebildete Intelligenz und der dritte durch seine Finanzkraft. Bis auf die Amerikaner haben alle ihre großen Verluste gehabt, die durch nichts gerechtfertigt werden können. Je mehr Technik in einem Krieg eingesetzt wird, um so größer sind die Verluste; verbunden mit ungeheurer Brutalität und Greueltaten.

In meinem Heimatort Sechshelden mit damals rund 750 Einwohnern gab es zwanzig Gefallene und etwa 10 unheilbar Kranke. Ich habe einige der Kranken gekannt, denen nur der Krieg für immer die Gesundheit genommen hatte, sie leiden und früh sterben ließ. Es war fast ein Wunder, daß sie die Schützengräben noch so lange überlebt hatten, mit ihren Rheuma-, Blasen- und Nierenleiden. [S. 53]

Außerdem gab es ältere Leute, denen 1923 (Inflation) bestätigt wurde, daß sie, Zeit ihres Lebens bei geringem Einkommen, völlig vergeblich jede Mark für ihre Altersversorgung zurückgelegt hatten. Da standen sie nun, auf die Mildtätigkeit anderer angewiesen, und konnten es nicht begreifen. Viele dieser Armen waren zu stolz, Hilfe überhaupt zu wollen; lieber verhungerten sie eher.

In der Schrift des Innenministeriums in Berlin steht zum Schluß: ”Wir werden den Krieg gewinnen, weil wir ihn gewinnen müssen”. Das war Anfang 1915. Man hatte damals schon kein anderes Argument mehr.


Personen: Binde, Erwin · Wilson, Woodrow · Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser
Orte: Sechshelden · Niederlande · Berlin
Sachbegriffe: 14-Punkte-Programm · Kriegsende · Soldaten · Artillerie · Truppenrückmarsch · Pferde · Kapitulation · Wanzen · Ungeziefer · Novemberrevolution · Gefallene · Verwundete · Inflation · Reichsministerium des Innern
Empfohlene Zitierweise: „Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918, Abschnitt 2: Erinnerungen an das Kriegsende“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/14-11> (aufgerufen am 29.03.2024)