Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918

Abschnitt 9: Überall spürbarer Mangel bei der Versorgung

[47-48] Der Mangel ist überall spürbar

Mangel herrschte, wohin man auch sah. Ich weiß noch, daß es keine Lederschuhe mehr gab. Die Sohlen waren aus Holz, auf das ziemlich dichter Stoff, wie Segeltuch, aufgenagelt wurde. Da die Feldwege nur wassergebunden waren, auch der Feldweg nach Dillenburg, war der Verschleiß durch die unebenen Oberflächen sehr groß, und die Schuhe waren schnell undicht. Bei regnerischem Wetter quatschte das Wasser heraus. Die Erkältungen waren dadurch häufiger. Mein Großvater Willem war Schuhmacher mit einer eigenen Werkstatt gewesen. Wir fanden dort einen Schuh, der mir paßte. Dann suchten wir nach Leder und konnten noch so viel finden, daß ein Verwandter, der Schuhmacher gelernt hatte und bei der Bahn beschäftigt war, mir einen zweiten Schuh dazu anfertigen konnte; der war zwar etwas kleiner, da aus dem Leder nicht mehr zu machen war. Damit ging es dann lange gut. Das schlechte Schuhwerk war allgemein einer der leidigsten Mängel, da es äußerst schwer war, sich mit einem Ersatz zu behelfen.

Große Not gab es auch bei Kleidern und Wäsche. Bei einzelnen Behörden bekam man Bezugsscheine - im Dorf auf dem Bürgermeisteramt, auf die man versuchte, etwas zu bekommen. So ganz sicher war das aber nicht. Da war es schon gut, daß die alten Kleider aufgehoben worden waren, und Mutter mit ihrer Nähmaschine so manches Kleidungsstück, vor allem zum Tragen bei der Arbeit, daraus anfertigen konnte.

Auf dem Gymnasium hielt der Direktor flammende Reden. Man merkte ihm an, daß er den Sieg unter allen Umständen herbeireden wollte, auch wenn seine Argumente aus heutiger Sicht nicht stichhaltig waren. Er meinte es selbst sicher ehrlich. Ich fühlte mich jedenfalls angesprochen und war auch ehrgeizig beim Sammeln [S. 48] von Brennesselstengeln und Mehlbeerchen für Kaffee-Ersatz. Vor allen Dingen aber wollte ich bei Bucheckern gute Ergebnisse erzielen. Dies schien mir sinnvoll, denn Bucheckern hatten einen hohen Fettanteil. Das Hinknien auf dem nassen Waldboden ist mir dann aber gar nicht gut bekommen. Ich habe lange mit rheumatischen Schmerzen zu tun gehabt. Auch bei der Werbung zum Zeichnen von Kriegsanleihen wurden wir Schüler mit eingesetzt. Entsprechend den Vermögensverhältnissen meiner Verwandten und Bekannten war hier aber der Erfolg gering; außerdem wurde dazu aufgerufen, Goldmünzen gegen Papiergeld - also Zahlungsversprechen - abzugeben.

Ich weiß heute nur noch, daß zu Beginn des Krieges Milliardenbeträge durch die Kriegsanleihen aufgebracht wurden, daß das Ergebnis aber später nachließ. Daß die kleinen Leute sich in ihrer Zeichnungs- und Gebefreudigkeit besonders auszeichneten, habe ich festgestellt. Sie waren sicher bessere Patrioten als diejenigen, die - wie heute - geringer Zinsvorteile wegen, ihr Geld sogar ins Ausland transferieren.

Aus den Städten hörte man schon 1917 von wachsenden Versorgungssschwierigkeiten, besonders, daß die Leute anstelle von Kartoffeln Steckrüben und sogar Runkelrüben erhielten. Das war tatsächlich absolut kein Ersatz. Meine verstorbene Frau erzählte mir später, daß ihr Vater, der Anstreichermeister in Köln war, während des Krieges für einen großen Betrieb dienstverpflichtet wurde. Ihre Mutter hatte es schwer, sich mit der großen Familie über Wasser zu halten, denn sie bekam nur das, was auf den Karten vorgeschrieben war bzw. was sie darauf erhielt. Meine Frau erzählte mir auch, daß ihre Mutter mitunter ratlos war, wenn die Kinder über Hunger klagten. Einige Male sagte sie dann sarkastisch: ”Eßt Salz, dann kriegt ihr auch Durst”.

Im Sommer 1917 war ich bei meiner Tante in Frankfurt zu Besuch. Sie schickte mich in die Markthalle, die in der Nähe ihrer Wohnung gelegen war, wo eine Zuteilung angekündigt war, die ich abholen sollte. Ich machte das gerne, denn ich wollte immer etwas erleben. Als die Halle unpünktlich geöffnet wurde - die Öffnungszeit war immerhin um etwa eine halbe Stunde überschritten -, rebellierten die wartenden Männer. Sie brachen das Tor auf, und mit einem Schub drängte die Masse hinein. Darunter auch ich. Mir persönlich passierte zwar nichts, aber der Korb, den ich bei mir hatte, wurde zerdrückt. Nachher wurde ich dann von der Tante bedauert, obwohl gar kein Grund dazu bestanden hatte.


Personen: Binde, Erwin
Orte: Sechshelden · Dillenburg · Frankfurt · Köln
Sachbegriffe: Versorgungsprobleme · Schuhe · Kleidung · Bezugsscheine · Kriegspropaganda · Sammelaktionen · Kriegsanleihen · Kartoffeln · Steckrüben
Empfohlene Zitierweise: „Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918, Abschnitt 8: Überall spürbarer Mangel bei der Versorgung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/14-9> (aufgerufen am 19.04.2024)