Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918

Abschnitt 8: Versorgung der Stadtbevölkerung, Hamsterfahrten

[46-47] Die Hamsterer kommen

Wir hatten nahe Verwandte in Frankfurt, Recklinghausen und Solingen-Ohligs. Diese kamen häufiger, um ihre kargen Rationen etwas aufzubessern.

In Frankfurt wohnten eine Tante und ein Onkel, Geschwister meiner Mutter, deren Erbland wir mitbearbeiteten. Sie bekamen immer etwas von der Schlachtung, dann Brot und Mehl, Kartoffeln sowie etwas Butter. Der Onkel aus Recklinghausen wurde vorwiegend von der Seite seiner Frau zusätzlich versorgt. Ich weiß auch, daß er von Recklinghausen bis in die nahe Hardt lief, um bei Kumpeln etwas zu besorgen. Die Tante aus Ohligs hatte es am schwersten; da der Onkel bettlägerig krank war, mußte sie sich im Dorf umsehen. Sie bekam einen Teil von ihrer Familie, von uns nur wenig. Da sie aber sehr beliebt war, bekam sie auch noch das eine oder andere im Dorf. Befördert wurden die Sachen oft in Schließkörben aus Weidengeflecht, die bei der Bahn in der vierten Klasse untergebracht werden konnten. Es war erstaunlich, wie die Frauen die schweren Lasten beförderten; die Schließkörbe hatten immerhin eine ungefähre Größe von 80x60x50 cm. Im Zug und auf den Umsteigebahnhöfen halfen sich die Leute gegenseitig. Die Hilfsbereitschaft war groß.

Unbekannte Hamsterer kamen während der Kriegszeit oft auch zu uns. Wenn wir sie fragten, wo sie her seien, sagten sie in der Regel: ”Us der Stadt”. Sie meinten damit Siegen. Durch die neue Bahnlinie Siegen-Dillenburg-Gießen war die Verbindung nach Sechshelden zwar gut, aber ein Ort zum Hamstern war unser Dorf absolut nicht. Die Einheimischen hatten durchweg selbst ihre Last. Ich erinnere [S. 47] mich daran, daß ein Junge aus Siegen gegen Abend noch nichts hatte. Er tat mir leid, und ich gab ihm einige Kartoffeln. Mutter wollte das anfangs zwar nicht, dann sagte sie aber doch ja. Sie meinte, daß wir selbst mit uns und unseren nächsten Verwandten unsere liebe Last hätten. So war es tatsächlich auch. Ich will nicht sagen, daß wir direkt Hunger litten, aber knapp war es allemal. Meine Eltern waren trotz aller Mühen und Sorgen zufrieden. Sie wußten darum, welche Not die Leute in den Städten, die gar keine Verbindung zum Land hatten, litten.

Dem Fleischbeschauer fiel im Krieg eine schwere Aufgabe zu. Er mußte die Gewichte der geschlachteten Schweine, Kälber und Kühe amtlich feststellen. Das war eine sehr heikle Aufgabe. Man erwartete von ihm, daß er bei dem Blick auf die Waage möglichst beide Augen zumachte. Er mußte aber verantworten, was er tat. Ich meine, daß er seine Aufgabe gut erfüllte. Er wußte die Kirche im Dorf zu lassen, das gelang ihm, weil er Zeit seines Lebens ein Mann der schweren Arbeit gewesen war und nicht überhörte, was sein Gewissen ihm anriet.


Personen: Binde, Erwin
Orte: Sechshelden · Dillenburg · Frankfurt · Recklinghausen · Solingen-Ohligs · Gießen · Siegen
Sachbegriffe: Hamsterer · Hamsterfahrten · Schlachtungen · Brot · Mehl · Kartoffeln · Butter · Eisenbahn · Bahnhöfe · Fleischbeschauer · Viehhaltung
Empfohlene Zitierweise: „Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918, Abschnitt 2: Versorgung der Stadtbevölkerung, Hamsterfahrten“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/14-8> (aufgerufen am 16.04.2024)