Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Louis Betschart, Evakuierte Elsässer in Hünfeld, Fulda und der Rhön, 1916-1918

Abschnitt 3: Zugtransport und Unterbringung der Evakuierten

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Dann rollte der Zug in die Nacht hinein, einem uns unbekannten Ziel entgegen. Mülhausen, Strassburg, Worms, Frankfurt waren die Richtpunkte. In Frankfurt gabs eine rechte Verpflegung, aber schon bald gings weiter und weiter. Dann kam die Trennung. Nach einer guten Stunde wurden in Flieden die hintersten Wagen abgehängt. Und wieder in Neuhof. Die Hauptgruppe blieb in Fulda. Mit uns ging's weiter bis Hünfeld. Einige reisten bis Bebra, Richtung Kassel. So kamen wir also ins «Hessische».

In Hünfeld stand ein gutes Frühstück bereit. Schöne grosse belegte Brote gabs und Kuchen. Das versöhnte die Übernächtler. Sie hätten zwar lieber ein Glas Wein gehabt, denn der «Tröster» im Gütterle hat doch Durst gegeben. Und wieder ging es weiter. Diesmal standen Leiterwagen zur Verfügung. Zwei Stunden lang fuhren wir auf der winterlichen Landstrasse. Wir glaubten ans Ende der Welt zu fahren. Schliesslich lag das Dorf vor uns, dem wir verschrieben waren. Flüchtlinge nannte man uns. Und wir mussten gleich erfahren, dass es so war. Denn viele Familien wurden auseinandergerissen. So kam mein Vater als Melker zu einem Grossbauer, meine Schwester zu zwei Jumpfern, meine Mutter mit dem kleinen Bruder zu einer Witfrau, die so wie so mit ihren eigenen Kindern schwer durch musste, weil der älteste Sohn eingezogen war. Mich nahm der Bürgermeister zu sich, er brauchte einen Stallbuben und Weidjungen. So erging es auch den andern Familien. Die Eltern litten darunter. Uns Jungen kam die Sache romantisch vor. Und da alles hoffte, in ein paar Wochen wird die Heimkehr kommen, fand man sich mit der Lage ab, zumal die Leute uns durchwegs sehr gut aufgenommen hatten. Ein Flüchtlingspfarrer kam uns bald besuchen und half etwas Kontakt schaffen.

Kaum waren wir etwas eingenistet, brachten die Zeitungen auch schon die grosse Sensation: «Belfort werde von einem schweren Schiffsgeschütz beschossen. In Frankreich herrsche grosse Panik. Und die neue grosse Kriegsanleihe werde hoffendlich gut gezeichnet.» Also das war des Pudels Kern. Jetzt wussten wir Bescheid, dass die Geschosse aus dem Hinteren Wald über Illfurth nach Belfort heulten. Die Franzosen sahen der Beschiessung natürlich nicht mit verschränkten Armen zu. Nach dem Krieg entdeckten wir die ungezählten grossen [S. 117] Granattrichter und den verwüsteten Wald. Wir sahen aber auch die imponierende Anlage mit ihren gewaltigen Bunkern, Munitionskammern und Aufzügen. Und in der Mitte natürlich den ausbetonierten Geschützstand. Das Geschütz selber war im Herbst wieder demontiert worden.


Personen: Betschart, Louis
Orte: Illfurth · Mühlhausen · Mulhouse · Straßburg · Worms · Frankfurt · Flieden · Neuhof · Fulda · Hünfeld · Bebra · Kassel · Belfort
Sachbegriffe: Eisenbahnzüge · Evakuierung · Kinder · Flüchtlingspfarrer · Schiffsgeschütze · Kriegsanleihen · Franzosen
Empfohlene Zitierweise: „Louis Betschart, Evakuierte Elsässer in Hünfeld, Fulda und der Rhön, 1916-1918, Abschnitt 14: Zugtransport und Unterbringung der Evakuierten“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/115-3> (aufgerufen am 19.04.2024)