Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918

Abschnitt 3: Der Beginn des Ersten Weltkriegs

[38-39] Bis heute erinnere ich mich, daß wir im Herbst 1914 in meinen Ferien einige Stoppeläcker umpflügten. Wir nahmen dann Brot mit, gekochte Eier und etwas Wurst, um draußen zu essen. Den heißen Kaffee hatten wir in einem irdenen Krug, und dieser wurde zum Warmhalten in eine Wollweste eingepackt. Ich war damals achteinhalb Jahre alt. Willem kam immer wieder auf den Krieg zu sprechen, den er verurteilte. Es ging ihm sicher darum, sich die Sorgen wegzureden, aber ich meine auch, daß er Wert darauf legte, gerade mir den Unsinn des Krieges beizubringen. Er meinte, daß ich es verstehen würde, und da kann ich ihm auch aus heutiger Sicht beipflichten. Er hielt den Krieg für das größte Unglück und lehnte jede Gewalt ab.

Der Krieg von 1870/71 hatte die Ansicht der Bevölkerung, vor allem der Veteranen, sehr beeinflußt. In jener kriegerischen Auseinandersetzung, von Bismarck sorgfältig geplant, war Bewegung; der Gegner lief davon. Und als die Bewegung aufhörte, war der Krieg siegreich beendet. Dieser Kriegsablauf schwebte den meisten Deutschen, auch den Sechsheldenern, 1914 vor Augen. Ein Unrechtsgefühl kam kaum auf. Allgemein war die Meinung verbreitet: es hat immer Kriege gegeben und wird sie auch weiter geben. Daß Bismarck den Franzosen neben dem überwiegend deutschen Elsaß auch das erzreiche Lothringen mit fast nur französischer Bevölkerung abnahm und außerdem Frankreich noch eine für damalige Verhältnisse happige Buße von 5 Mill. Goldmark auferlegte, ist aus heutiger Sicht sicher nicht weise gewesen. So sahen es 1914 im Dorf aber nur wenige. Bismarck hatte sich durch die Schaffung der Rentenversicherung die Gunst der Bevölkerung für das Kaiserreich erworben. Außerdem war eine mächtige Industrie entstanden, die Kriegsmaterial in gewaltigen Mengen erzeugen konnte.

Daß Bismarck Zeit seines Lebens vor dem Zweifrontenkrieg gewarnt hatte, wurde zwar von einigen Seiten, auch im Dorf, eingewandt, aber durch den allgemeinen Aufschwung übertönt. Als dann die Russen in den Masurischen Seen entscheidend zurückgeschlagen wurden, schien die Bismarck’sche Sorge praktisch korrigiert.

Schon 1914 hörte ich von meinem Vater, der mit einem guten Bekannten gesprochen hatte, daß Kreise aus der Wirtschaft erhebliche Bedenken wegen der schwierigen Rohstofflage in Deutschland geäußert hätten, und daß man den Verbündeten Österreich/Ungarn und Italien nicht viel zutraute. Auch von einigen ganz einfachen Dorfleuten hörte man oft ähnliche Meinungen. Aber überall drängten die Militärs auf Krieg. Da blieb es nicht aus, daß Österreich/Ungarn nach der Rückendeckung durch Deutschland Serbien den Krieg erklärte.

Bereits in den ersten Augusttagen rollten unablässig die Militärzüge in Richtung Westen am Dorf vorbei. Die Soldaten fuhren in Güterwagen, die zum großen Teil mit Grün und Blumen geschmückt waren. Auf den Wagen waren viele Inschriften, meistens mit Kreide, aufgemalt: ”In vier Wochen sind wir in Paris”, "Weihnachten sind wir wieder zuhause” oder "Jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit, jeder Schuß ein Ruß”... Allgemein war der Tenor: wir werden nur einige Monate zum Sieg brauchen.


Personen: Bismarck, Otto von · Lenz, Willem Daniel · Binde, Erwin
Orte: Sechshelden · Elsass-Lothringen · Russland · Masurische Seen · Österreich · Italien · Serbien · Paris · Dillenburg
Sachbegriffe: Schulferien · Deutsch-Französischer Krieg 1870-1871 · Veteranen · Rentenversicherung · Rüstungsindustrie · Augusterlebnis · Züge, bemalte · Landsturm
Empfohlene Zitierweise: „Erwin Binde, Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Sechshelden und Dillenburg, 1914-1918, Abschnitt 2: Der Beginn des Ersten Weltkriegs“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/14-3> (aufgerufen am 19.04.2024)