Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 23: Siegesnachrichten und Glockenläuten

[62-64] Der Zufall will es, daß, als droben am Hange die letzten Sensen rauschen, die ersten Siegesglocken läuten.
In der hochgehaltenen Rechten das flatternde Telegramm, eilt der Postwirt ins Dorf. Kaum kann er sein Bäuchlein über den eilenden Beinen halten, so schnell streben sie voran. Links und rechts ruft er etwas von Sieg und stürmt in die Schusterwerkstatt am Straßenkreuz. Rasch wie im Handumdrehen kommt er mit Hammer und Nägeln bewaffnet wieder zum Vorschein. [S. 63]

Eine Telegraphenstange steht aufdringlich im Mittelpunkte des Dorfes. Dorthin drängt den Postwirt seine Eile. Breitspurig stellt er sich davor, und mit dem ganzen Bewußtsein einer geschichtlichen Tat schlägt er wuchtig seine Schusternägel durch die Ecken des Telegramms in das Holz der Stange. Dann setzt er seine Brille auf und liest mit dröhnender Stimme denen, die sich unterdessen um ihn versammelt haben, seine Nachrichten vor. Aber als er darauf die ruhige Freude derer sieht, die hinter ihm stehen, merkt er, wie sehr es ihn gepackt hat. Und er — entschuldigt sich: „Aich kenn' maich näit me!"

Auf einmal kommt ein Helles Singen näher. Das sind die Schulkinder. Ihr Lehrer ist für vier Wochen zurückgeschickt worden und hält seinen Unterricht. Von eilfertigen Boten hat er bereits die Nachricht erhalten. Und nimmt seine Kinder, läßt eine Fahne holen und sie mit Buchs schmücken, stimmt die Wacht am Rhein mit ihnen an und zieht — auch zur Telegraphenstange. Ich komme dazu und schicke ein paar Buben zum Läuten.
Bald klingen die Glocken und rufen auch die ändern, die bisher von nichts gewußt, ans Straßenkreuz und seine Stange. Der Lehrer erklärt ihnen und seiner Schule noch einmal die Meldung, ich verdeutliche sie auf einer großen Karte. Dann winkt der Lehrer seinen Kindern. Sie stellen sich nach Stimmen um ihn vor das siegverkündende Blatt. [S. 64] Und unter dem Geläute der Glocken, dem Zwitschern der Vögel, dem Säuseln des Erntewindes klingt ihr Freikonzert vaterländischer mehrstimmiger Lieder in die dankbaren Seelen der Menschen.

Glocken und Lieder Hallen auch übers Feld zu Schnitter und Mäherin. Die wissen nicht, warum es läutet und was der ferne Singsang soll. Aber sie wissen, daß das Geläute außer der Ordnung ist und nur etwas ganz Großes die heilige Tradition der Glocken zu stören vermag. Also denken sie: es ist ein Sieg. Und der Bauer läßt einen Augenblick Sense und Sichel ruhen. Er blickt nach dem Hügel mit seinen Häuschen und seinem Turme. Er lauscht dem Glockenton und sieht nach Himmel und Erde: Nein, die haben ihm eine rechte Zuversicht gegeben; und die ist nicht zuschanden geworden.
Ein paar Worte wechselt er darob mit den Weibern hinter ihm: Gott sei Dank, daß sie draußen siegen; aber auch hier ist die Arbeit schwer. Und wie vorher schneidet die Sense rauschend in die Halme.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Erntearbeiten · Siegesnachrichten · Glockenläuten · Telegraphenstangen · Telegramme · Fahnen · Siegesfeiern · Wacht am Rhein
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 7: Siegesnachrichten und Glockenläuten“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-23> (aufgerufen am 19.04.2024)