Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 20: Lißberger Soldaten auf Heimaturlaub

[55-57] Soldaten gehen, Soldaten kommen.
Aus Frankreich kommt der erste, aus Rußland der zweite, aus Galizien der dritte. Aber wie sie kommen, ist bei allen gleich.
Ich gehe durch das Dorf, ohne an etwas anderes zu denken als an den Krieg und das Leiden der Männer im Felde. Da sehe ich ein Kind die Straße entlang laufen. Das fällt mir nicht auf. Aber, wenn ich gleich dahinter auch einen Alten, der sonst nur mühsam gehen mag, in eifriger Arbeit bemerke, schneller als sonst der holperigen Gasse den Raum abzugewinnen, da werde ich aufmerksam und frage. Dann trifft mich ein erstaunter Blick und eine erstauntere Stimme teilt mir mit, daß soeben der „Justel" oder „Weidner" aus „Rußland" gekommen sei. Und jetzt fange auch ich zu eilen an, und nicht lange dauert's, so befinde ich mich mit meinem Dorfe auf dem Weg, dem Urlauber entgegen.

Den hat unterdessen die Winkelbahn nach tagelanger, qualvoller Fahrt am Bahnhöfchen im Tale abgesetzt. Sie haben seither alle Tränen vergossen, denen dies geschah. Wonach sie sich monatelang gesehnt, was in den schwersten Kämpfen ihnen vor Augen gestanden, was in schlimmen Nächten der Inhalt ihrer Träume gewesen, der Hügel mit seinen weißen Häuschen ist wieder greifbare Wirklichkeit geworden. Kaum können sie's glauben, daß nicht auch er zerschossen ist und in traurigem Schutte liegt, daß der [S. 56] dicke hohe Turm der Ruine — der prächtigste Beobachtungspunkt — noch so trotzig in den Himmel stechen kann, daß die hellen Wände noch so ungeschändet mädchenhaft ihre Grüße nach dem Bahnhof winken, daß die Felder noch ebenso golden sind, als sie es gewesen beim Auszug — vor einer Ewigkeit. Der Urlauber weiß gar nicht, wie ihm ist. Er taumelt. Er ist erstaunt, daß er keine Kanonen hört. Er geht mit eingezogenem Halse und schüttelt den Kopf darüber, daß in der Heimat keine Kugeln fliegen.

Dann kommt sein alter Vater, krumm geworden von der Riesenarbeit des letzten Jahres, und gibt ihm die Hand. Und die Mutter gibt ihm die Hand, und sein Mädchen tritt schüchtern hinzu und reicht ihm auch die Hand. Und dann das ganze Dorf! Alle drücken sie ihm die Hände, vom Ältesten begonnen bis hinab zum Allerjüngsten. Es ist, als ob eine große Welle ihre einzelnen Kämme zum Felsen heranspüle, um ihn zu grüßen und zu kosen. Und es ist auch eine solche Welle; eine Welle innigen Gefühls und überwältigender Dankbarkeit. Nicht jeder sagt etwas dazu; die meisten sind still, und nur ihre Gesichter reden von dem, was sie empfinden. Aber einige sprechen auch ein kurzes Wort der Begrüßung. Ich habe ein paar solcher Worte gehört: Dank gegen Gott.
Mitten unter allen steht der Urlauber und reicht die Hände rechts und links und kann sich nicht helfen, [S. 57] daß er weinen muß, weil er so deutlich den tiefen, lebendigen Herzschlag seines Heimatdorfes fühlt.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg · Frankreich · Rußland · Galizien
Sachbegriffe: Bahnhöfe · Fronturlauber · Eisenbahn
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 12: Lißberger Soldaten auf Heimaturlaub“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-20> (aufgerufen am 25.04.2024)