Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 17: Anhalten von Autos, Straßensperren bei Lißberg

[50-51] Und endlich, eines Abends bekommen wir mit gutem Winde unser Auto. Sie hören's schon, als es noch ganz in der Ferne ist. Bald ist's sicher, daß es nicht am Orte vorüberfährt. Schließlich wird's klar, daß es von unten kommen muß. In einer Minute weiß es das ganze Dorf, in fünf Minuten stehen wir alle — auch die Männer von den andern Barrieren — hinter der Barrikade am Unterdorf. Das Auto kommt näher. Schnell noch ein paar Wagen quer! Schon funkeln seine Scheiben; um Himmels willen nicht schießen! Nun ist es ganz nahe — nur auf die Räder zielen! Jetzt fährt es langsam. Alle halten den Atem. Einer springt vor.
Allein im nächsten Augenblick reißt er den Hut vom Kopfe. Dann wird der Schlagbaum geöffnet. Höflich lächelnd fährt einer durch die Menge, den sie alle kennen.
Wir sind enttäuscht. Verstimmt gehen wir nach Hause. Einen höre ich sagen: „Un vor so wos hot ma sei Gewehr!" Und in der Ferne rufen die Kinder den zu Hause gebliebenen Alten zu: „'s wor jo blo—o—s de Dokter!"
Schon das nächste Auto hält man nicht mehr an. Auch hier hat sich des Dorfes Seele bald geholfen. Und Unglücke hat es bei uns nicht gegeben.
Aber im Nachbardorfe wäre doch beinahe der Tod von der Barriere ins Auto gesprungen. Dort brachte man einen Wagen zum Stehen, in dem keine Bekannten, sondern Fremde saßen, die sich — unerfahren mit den Menschen des Landes — über diese lustig machten. Als die Bauern nach dem Hin und Her fragten, antworteten sie französisch. Es soll ihnen schlecht bekommen sein.
[S. 51] Der Ärger war bei den Autos. Die Poesie war bei den Bahnwachen.
Zwar hätte auch ohne sie niemand etwas unserer Winkelbahn getan. Nicht ein einziger Militärzug ist auf ihr gefahren bisher. Aber immerhin . . . wir wachten gern: Sommernacht; Vollmondschein; offenere treue Seelen zur Seite; angeregte Phantasie; leises Schienenknacken und daraus die Hoffnung, daß wir in unserer Ecke schließlich doch noch etwas von der Mobilmachung sähen; aber immer nur Stille und Nacht und Mondschein — dazwischen ein Knall aus der Ferne von solchen herrührend, die nach den Sternen schießen ohne Not und nur, weil sie ihren Spieltrieb nicht beherrschen können — dann wieder das rauschende Wasser mit dem gekräuselten Schimmer seiner Wellen — über allem aber der Flügelschlag der größten Zeit . . . das sind mir und den Männern, die ebenso wie ich gewacht, ewig unvergeßliche Erinnerungen.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Straßensperren · Spionenangst · Bahnwachen
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 2: Anhalten von Autos, Straßensperren bei Lißberg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-17> (aufgerufen am 20.04.2024)