Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 16: Angst vor Spionen und Saboteuren in Lißberg

Aber dann geschieht es, daß den Regierenden die Nerven durchgehen. Es kommen die offiziellen Telegramme über radfahrende Spione in Maurerkleidung und über Autos mit Damen und Gold. Der Erfolg ist, daß auch bei uns die Bürgerwehr eingerichtet wird. Durch die Ortsschelle ins Wirtshaus gerufen, werden wir dort nach einer schnell aufgestellten Liste in Bahn-, Straßen- und Telegraphenwachen eingeteilt. Die Dienststunden werden genau geregelt. Wer kein Knabe ist, gilt heute als Mann, und die Männer werden bewaffnet. Wir sind erstaunt, woher in dem kleinen Dorfe plötzlich all die Schießgewehre kommen. Freilich sind's auch allerlei durcheinander: vom Vogelflobert übers Jagdgewehr zum Modell 711 — wenn's nur im Notfall „noch Schäiße aussieht". Ich selber vermag 14 Tage mit einer alten Flinte und einer einzigen Schrotpatrone Bahn und Telegraph tadellos vor Spionen zu bewachen,- freilich, das ist nicht meine Schuld.

Auf Anordnung werden Barrikaden gebaut. An allen Ein- und Ausgängen des Dorfes schieben sich Wagen zusammen; mit den Deichseln stehen sie gegeneinander. Die Deichseln dienen als Schlagbäume und werden wie solche von der Wachmannschaft bedient. Einer Wachkolonne will das nicht genügen: vor ihre Wagen spannt sie noch eine Kette über die Straße. Doch soll sie nicht zur Freude daran kommen. Denn die Wächter des Nachbarstädtchens wandern einmal herauf zu uns, um unsere Verteidigungsanlagen zu studieren. Soweit sind sie auch ganz zufrieden, aber als sie die Kette sehen, machen sie verächtliche Bemerkungen:
„Des wär ma ach e Kett! E Käuhkett is! Use Kett, des is e Kett! So—o—o—o dick is use Kett!"
Das ist der Wettstreit der Dörfler. Die Unseren streichen beschämt ihre Kette.
Aber als alles fertig ist, will kein Auto kommen. Es ist nahe daran, daß man verstimmt wird. Man hat so viel von glücklichen Fängen gehört, die anderswo gelungen seien, und möchte doch auch solch einen glücklichen Fang machen. Angestrengt lauscht man die Straße und das Tal hinab, ob sich nicht bald eine der gefährlichen Goldkutschen bemerkbar mache; bei gutem Wind könnte man sie von weitem hören.


  1. Das Gewehr Mauser Modell 1871 (kurz M 71) war die Hauptwaffe der deutschen Infanterie seit dem deutsch-französischen kriegvon 1870/71.

Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Spione · Spionenangst · Bürgerwehren · Ortsglocken · Bahnwachen · Straßenwachen · Telegraphenwachen · Gewehre · Straßensperren
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 1: Angst vor Spionen und Saboteuren in Lißberg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-16> (aufgerufen am 18.04.2024)