Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 14: Kriegsleid der Familien in Lißberg

[42-45] Aber der große Schatten hält ihr Herz doch nur in seiner einen Hand. Mit der anderen hämmert er schwer und unbarmherzig auf die Seele der Dorfgenossenschaft. Das Leid wird Gesamtleid.
So ist es zurzeit der Mobilmachung. Der erste Mann muß hinaus, ein Landwehrmann. Er selber reißt sich mühsam zusammen; aber seine Frau verfällt in Weinkrämpfe; die armen Kinder schauen weinend oder verständnislos darein; der Großvater erbarmt sich ihrer mit Rührung und Liebe.
Die ganze Gemeinde erscheint vor dem Hause. Die Weiber umringen die Wehrmannsfrau, fassen sie am Arme, stützen und führen sie zur Bahn. Die Männer und Burschen geleiten den Mann. Die Kinder scharen sich um die weinenden Kameraden. So gehen wir zusammen durch die Straßen nach der Bahn, betrösten, besprechen, bedauern und beweinen alles gemeinsam und schaffen so für die nachdenkliche Seele ein erschütterndes Bild ländlichen Gesamtleides.

Die Gestalten wechseln. Aber die Farben des Bildes sind heute noch nicht verblaßt.
Seit Kriegsbeginn geht nachmittags um fünf Uhr ein Zug. Wir heißen ihn den Urlauberzug. Denn mit ihm fahren alle, die als Genesende oder Landstürmer in den Garnisonen der Nachbarschaft liegen, des Sonntags von ihrem Urlaub zurück. Wer ließe sich's nehmen, da an der Bahn zu sein? Nicht einer von allen! Und es ist im Wechsel der [S. 43] Zeit die ewig gleiche Volksversammlung der Dorfgemeine, die sich wie nach stiller Verabredung immer wieder am Bahnhof zusammenfindet, um von ihren Söhnen einen gemeinsamen Abschied zu nehmen — einen herzlichen Abschied, sei's auch mehrmals und öfter von demselben.

Der jüngste Sohn, die rechte Hand einer Witwe, ist lange vermißt und wird wahrscheinlich nie mehr gefunden. Aber er hat noch einen Bruder in der Heimat. Der ist Landsturmmann und wartet auf den Ruf ins Feld. Bis dahin erhält er Sonntags und manchmal auch in der Woche Urlaub in die Heimat. Aber immer kommt er mit der trauernden Sorge, es möchte zum letzten Male sein, daß er den Hügel grüßen dürfe. Und so nimmt er von uns allen einen immer neuen Abschied auf Leben und Tod. Nicht daß sich die Menschen daran gewöhnten. Sie haben eine wundervolle Fähigkeit der Seele zum Erleben und geben mit dem gleichen Ernste immer wieder den gleichen letzten Tränengruß und Handschlag. Nun ist der Sohn der Witwe endlich draußen. Vielmals hat er seinem Dorfe Ade gesagt, und immer war's ein großes Leid.
Manchmal gibt's zwischen der Zeit ein lauteres Rufen, ein helleres Singen als gewöhnlich. Aber im ganzen ist wie am ersten Tage des Krieges uns auch heute noch die Begeisterung in und mit den [S. 44] Worten fremd. Ein einziger hat in der ganzen Zeit eine Art Rede gehalten. Das ist unser hochbetagter Straßenwart, ein prachtvoller Mensch, Veteran. „Wahrt mir nur, was euere Väter errungen haben!" hat er seinem einzigen Sohne nachgerufen. Das war alles, was in dieser Art geredet worden ist. Und auch das fast drohend gesprochen, so als wolle die erhobene Faust all das Leid des alten Herzens dem nächsten Besten, der es nicht verstünde, ins Gesicht schmettern . . .

Das große Leid! Unser größter Bauersmann, ein herber und verschlossener Charakter, muß nacheinander alle seine Söhne und Schwiegersöhne hinaussenden. Er hat allein von allen damals keine Tränen vergossen. Er nahm die vervielfachte Last auf sich und ging, aufrecht wie immer. Und doch hat er auch geweint. Als sie ihm seine Pferde aushoben, die prächtigsten Tiere weit und breit, von ihm selber aufgezogen, da habe auch ihn ich weinen sehen. —

Das große Leid! Am schlimmsten ist es doch für die Mütter der Gefallenen: Wir haben noch die Klagefrauen. Nicht als öffentliche Einrichtung soweit sind doch auch wir vom Altertume entfernt; aber es ist ein freundnachbarlicher Brauch. Trete ich in die Stuben der Verlassenen, so treffe ich sie tagelang, ja wochenlang im Kreise einer Anzahl weinender Nachbarinnen. Die weinen oft lauter als die Mütter selber. Und ich merke, daß sich die [S. 45] Alten durch solche nachbarliche Klageversammlung geehrt und geliebt fühlen sollen. Aber wie sehr wird dadurch die Abschiedswunde immer wieder auf-gerissen und das große Leid zu einem ewigen gemacht. Da läuft denn der Pfarrer vergebens. Ist es ihm geglückt, ein wenig die Herzen zu leichtern, die Tränen der Klagefrauen geben immer wieder einen neuen schweren Ballast.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Mobilmachung · Landwehrmänner · Eisenbahn · Landsturm · Bahnhöfe · Klagefrauen · Gefallene
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 11: Kriegsleid der Familien in Lißberg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-14> (aufgerufen am 29.03.2024)