Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 5: Abgeschnittensein von den Krisennachrichten

[23-24] Der schwere Anfang.

Die Verhängung des Belagerungszustandes am 31. Juli hatte auch für uns den Beginn eines bangen, bangen Wartens zu bedeuten. Dabei mußten wir auf dem Lande noch unsere besondere Last dulden. Nicht wie die Volksgenossen in den Städten waren wir in der Lage, unsere innere Erregung auf die Straße zu tragen und dort in gewaltigen Massenimpulsen auszulösen oder untergehen zu lassen. Unsere Einsamkeit war überhaupt das Schrecklichste für uns in jenen Stunden.
Besonders der Lehrer und ich hatten eine qualvolle Zeit. Wir hätten so gerne mehr gewußt und konnten doch so wenig erfahren. Wir belagerten die Posthilfsstelle und hofften auf telephonische Nachrichten aus Frankfurt. Und wir wären froh gewesen um das geringste Brosämlein vom Tische eines reicheren Erlebens, wenn es uns jemand gegeben hätte. Aber keine neue Zeitung wollte uns erreichen, kein Sonderblatt in unser Tälchen fliegen, kein hurtiges Fünklein uns eine lakonische oder geschwätzige Nachricht überbringen. Wir saßen aus einer Insel.
Dazu ließen uns und ließen sich untereinander die eigenen Dorfgenossen im Stich. Je tiefer sich der Bauersmann erregte, desto mehr schwieg er. Den Rechen in der Hand, die Sense aus der Schulter, so schritt er schweigsam in das Feld. Seine Augen [S. 24] waren traurig, seine Lippen verbissen; aber mit geballten Fäusten blickte jeder für sich allein dem Schicksal entgegen.
So schlich der Rest des Tages uns elend dahin. Wir waren ja alle so allein in ihm, so schrecklich allein und verlassen in der ungewissesten Erwartung unausdenkbarer Möglichkeiten.
Dieses Alleinsein — keiner aus den Dörfern wird es jemals vergessen: es war wie ein Märtyrertum.
Noch spät am Abend gingen der Lehrer und ich in die Posthilfsstelle, die zugleich Dorfwirtschaft ist. Dort saß, als wir kamen, bereits ein fremder Gast, ein noch viel Einsamerer als wir es waren; ein Höhenvermesser, der die Tage seither im Vogelsberg in den Wäldern gelegen, von nichts bis heute etwas Ordentliches erfahren hatte und sich jetzt plötzlich erlebnis- und menschenhungrig in unsere Dorfschenke verschlagen sah. Dem war es recht ein Balsam, als er uns kommen sah — die große Masse von zwei kleinen Menschen, mit denen man doch endlich einmal reden konnte. Und uns erging es ähnlich. Der Lehrer und ich nahmen ihn gleich in die Mitte, wir setzten uns zusammen und — und redeten auch zu dreien wenig. Wir warteten ja.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg · Frankfurt · Vogelsberg
Sachbegriffe: Belagerungszustand · Telefon · Zeitungen · Sonderblätter · Bauern · Kriegsnachrichten
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 11: Abgeschnittensein von den Krisennachrichten“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-5> (aufgerufen am 20.04.2024)