Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg


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Paul Cauer, Geschichte der Familie Cauer, Band 2, S. 64-65

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Paul Cauer, Geschichte der Familie Cauer, Band 2, S. 66-67

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↑ Aufzeichnungen des Kreisarztes Dr. Paul Cauer in Schlüchtern, 1914-1923

Abschnitt 6: Nahrungsmittelnot, Kapp-Putsch, Inflation

[65-68] Am 7. Mai 1919 wurde im Schlosse zu Versailles das wahnsinnige Friedensdiktat durch Clemenceau verkündet. Es folgte am 28. Juni 1919 die Unterzeichnung des Schandfriedens-Vertrags im Schlosse zu Versailles. Trotzdem blieb [S. 66] die Blockade Deutschlands noch weiter bis zum 12. Juli des Jahres bestehen. Wenn sich die Wirkungen dieser Blockade auch in Schlüchtern sehr empfindlich bemerkbar machten, so waren die durch die sie bedingten Entbehrungen für uns Bewohner des Landes doch längst nicht so empfindlich wie die der Bewohner der großen Städte, da es uns auch in der schlimmsten Zeit der Nahrungsmittelnot immerhin möglich blieb, gelegentlich durch die Beziehung zum Bewohnern des platten Landes und durch die eigene Gartenwirtschaft zu manchen Nahrungsmitteln zu gelangen, die den Bewohnern der großen Städte fast völlig versagt waren.

Mir war in dieser schweren Zeit die undankbare Aufgabe zugefallen, die zahlreichen von den Ärzten ausgestellten Bescheinigungen für Sonderzuweisungen von Nahrungsmitteln für Kranke zu prüfen und zu verhindern, daß in dieser Beziehung mehr geschah, als unbedingt nötig war. Am 13. März 1920 Nachmittags kam nach Schlüchtern die Nachricht, daß in Berlin der Versuch gemacht worden war, die Regierung [S. 67] und die Nationalversammlung zu stürzen. Als ich Abends durch die Straßen des Städtchens schritt, konnte ich hier und da Gruppen von Bürgern stehen sehen, die über das Geschehnis in Berlin ihre Meinung austauschten. Von Schuhmachermeister Flemmig erfuhr ich, daß für die deutschen Arbeiter von Berlin aus der Generalstreik verkündet worden sei, der so lang aufrecht erhalten werden solle, bis der Fortbestand der bisherigen staatlichen Verfassung gesichert sei. Der Vorladung zu einer für den 16. März 1920 in Hanau anberaumten Schwurgerichtssitzung, in der ich als Sachverständiger mitzuwirken hatte, konnte ich nicht Folge leisten, weil auch das Personal der Eisenbahn in den Streik getreten war und deshalb die Eisenbahnverbindung zwischen Schlüchtern und Hanau unterbrochen war.

Am 6. April 1920 wurde aus Anlaß der revolutionären Vorgänge im Ruhrgebiet der gesamte Maingau mit den Städten Frankfurt a.M., Hanau, Homburg vor der Höhe und Darmstadt durch die Franzosen besetzt und nachgehends bis zum 17. Mai 1921 besetzt gehalten. Infolge der unbeschränkten Ausgabe von [S. 68] ungedecktem Papiergeld bildete sich in Deutschland eine schließlich eine groteske Form annehmende Inflation, d.h. ungesunde Aufblähung der papierenen Zahlungsmittel, aus, sodaß mir z.B. am 25.10.1920 für die Ausstellung eines Gutachtens für eine Lebensversicherungsanstalt 10.000 Papiermark zu zahlen waren. Bald wurde mit Hunderttausenden, Millionen und Billionen Papiermark gerechnet. Die Folge von dieser Inflation war, daß die in deutschen Staatspapieren angelegten Vermögen mehr und mehr ihren ursprünglichen Wert verloren und schließlich nahezu wertlos wurden.


Personen: Cauer, Paul · Clemenceau, Georges · Flemmig, Schumacher
Orte: Schlüchtern · Versailles · Berlin · Hanau · Ruhrgebiet · Frankfurt · Bad Homburg · Darmstadt
Sachbegriffe: Versailler Vertrag · Blockadepolitik · Nahrungsmittelnot · Sonderzuweisungen · Kapp-Putsch · Eisenbahnerstreiks · Streiks · Revolution · Franzosen · Inflation · Staatspapiere · Kriegsanleihen · Papiergeld
Empfohlene Zitierweise: „Aufzeichnungen des Kreisarztes Dr. Paul Cauer in Schlüchtern, 1914-1923, Abschnitt 3: Nahrungsmittelnot, Kapp-Putsch, Inflation“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/85-6> (aufgerufen am 24.04.2024)