Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918

Abschnitt 12: Kriegsende, Revolution und die Folgen

[186-187] Die Wochen, die Monde, die Jahre waren ins Land gegangen und es war immer noch Krieg. Was niemand für denkbar gehalten hatte, wurde grausame Wirklichkeit: Krieg! Krieg! Und immer wieder Krieg! Der älteste Sohn, wie schon bemerkt, wurde sehr bald zum ersten Mal verwundet. Der zweite, ein Bursch von 17 Jahren, im Jahre 1917 auch hinaus. Beide mit ewigen Denkzetteln zurückgekehrt. Aber doch lebend. Aber heute doch relativ gesund.

Aber die anderen! Die Millionen Opfer des Schlachtfeldes! Die anderen Millionen, die im Inland den grausamen Kriegsgeschehen zum Opfer fielen. Und wir alle, die wir Kriegsopfer sind! Im Innersten verwundet. Zu Krüppeln geschlagen. Unheilbar für die Tage, die uns noch zu leben geblieben sind.

Es ist oft beschrieben und ich will’s nicht noch einmal heraufbeschwören. Nur eine Zusammenfassung soll noch sein. Auf den Rausch der ersten Kriegstage mit ihrem Glauben an den uns „aufgezwungenen“ Existenzkampf der Katzenjammer einer ganz anders gearteten Erkenntnis. — Die Kritik! - Die Auflehnung! — Die Hekatomben wurden hingemäht. Es kam zum U-Bootkrieg und Amerikas Eintreten in den Krieg, das unser Schicksal besiegelte.

Draußen die abgekämpften, dezimierten und zum Teil degenerierten Truppen. Drinnen der Hunger, die Not in jeder Form. Auflösung der Familie, Verwahrlosung, Zuchtlosigkeit, Niedergang überall. Das nannten sie dann den Dolchstoß!

Der Waffenstillstand! Die Truppen strömten zurück. Meist in guter Ordnung, aber da wurden Lazarette aufgelöst. Auch solche, in denen Geschlechtskranke [S. 187] waren. Ein Giftstrom ergoss sich über die deutschen Lande und wenn man danach von dem Rückgang dieser Seuchen zu sprechen berechtigt ist, so vergesse man nicht den Hochstand der Krankenziffer nach dem Krieg und auch nicht die Tatsache, dass in den ersten Jahren nach dem Krieg in einer großen Berliner Anstalt jedes fünfundzwanzigste Neugeborene syphilitisch war.

Dann der so genannte Friede! - Als er „ausgebrochen“ war, wurde das Elend schlimmer. Eine Revolution sollte uns befreien. Es wurde ein Putsch daraus. Ich gehörte leider auch zu denen, die es begrüßten, dass da eine Revolution auf legalem Weg und ohne Blutvergießen sich vollzogen hatte. Es dauerte nicht allzu lange, bis ich einsah, wie viel besser es gewesen wäre, wenn das Volk damals ein wenig Köpferollen und derlei Scherze gespielt hätten. Aber wir blieben wirklich „legal“. Die Halbheit triumphierte. Der Kapp-Putsch. Die Ruhrinvasion. Die Inflation. Frauen, die am Fabriktor die Männer abfingen, damit der Lohn unverzüglich in „Sachwerte“ umgewandelt werden konnte. Nervenanspannung ohnegleichen! — Nervöse Leiden sind’s, die das zuwege brachten, und die Inflation stand dahinter.

Der Krieg! Und heute? Rüstungen! Rüstungen! Giftgas! Brand- und Sprengbomben! Das Hinterland, Frauen und Kinder, Greise und Kranke, das Treffziel! Ein Gutes ist dabei: Es dauert nicht lange und auf dem Friedhof Europas mögen sich dann die Aasgeier aus anderen Kontinenten tummeln bis - ja, bis zum nächsten Debakel.


Personen: Fürth, Henriette
Orte: USA · Berlin · Frankfurt
Sachbegriffe: Verwundete · Krüppel · U-Bootkrieg · Hunger · Verwahrlosung · Dolchstoßlegende · Waffenstillstand · Truppenrückmarsch · Lazarette · Geschlechtskranke · Syphilis · Kapp-Putsch · Ruhrkampf · Inflation
Empfohlene Zitierweise: „Henriette Fürth, Aus der Autobiographie der Frankfurter Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, 1914-1918, Abschnitt 5: Kriegsende, Revolution und die Folgen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/29-12> (aufgerufen am 25.04.2024)