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Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Gründung eines Sozialdemokratischen Wahlvereins in Marburg, 29. August 1903

In der Universitätsstadt Marburg wird ein „Sozialdemokratischer Wahlverein für Marburg und Umgebung“ gegründet. Der Verein hält regelmäßig monatliche Versammlungen ab, die im Parteilokal Daniel Jesberg am Wehrdaer Weg stattfinden. Von den Gründungsmitgliedern sind nach dem Polizeibericht 14 Buchdrucker, sechs Schuhmacher, sechs Schreiner, drei Formstecher, zwei Schneider, zwei Geiger, zwei Installateure, je ein Kupferschmied, Zinngießer, Tapetendrucker, Weißbinder, Bildhauer, Hilfsarbeiter, Gärtner und Gastwirt, sowie ein Schriftsteller (Robert Michels) und ein Assistenzarzt.

Basis der Organisation lokaler parteipolitischer Interessen

Eines der ersten Mitglieder ist der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels (1876–1936), der als einer der Gründerväter der modernen Politikwissenschaft gilt.1 Um Michels bildet sich innerhalb des Wahlvereins ein kleiner Akademikerflügel.

Der neu gegründete Verein äußert sich in den Jahren 1903 und 1904 zu dem Umstand, dass es für die kleinen lokalen Wahlvereine in der Provinz aus finanziellen Gründen in aller Regel kaum möglich ist, eigene Vertreter zu den Parteitagen zu entsenden. Der Marburger Wahlverein macht den Vorschlag, „die demokratische Gleichberechtigung aller Kreise zur Teilnahme an den Parteitagen dadurch zu verwirklichen, dass die gesamten Delegationen aus der großen Parteikasse zu decken seien.“2

Wurzel im 19. Jahrhundert

Ausgangspunkt der Sozialdemokratischen Wahlvereine waren Vereinigungen, die während der zweiten Hälfte des vorangegangenen Jahrhunderts unter der Bezeichnung „Wahlvereine zur Erzielung volksthümlicher Wahlen“ gegründet wurden und ihrerseits parteipolitisch gefärbte Nachfolger der im Vormärz entstandenen „Politischen Vereine“ darstellten. Meist existierte einer dieser Wahlvereine pro Reichstagswahlkreis. Viele der um die Jahrhundertwende existierenden lokalen Wahlvereine waren stark sozialdemokratisch geprägt. Konstituieren konnten sie sich auf lokaler Ebene allerdings erst ab 1899. Bis zu diesem Zeitpunkt stand in Preußen ein Vereinsgesetz aus dem Jahr 1850 in Kraft, das ein „Verbindungsverbot“ enthielt. Dieses erlaubte nur zeitweise die Bildung von Wahlvereinen in der Form von „Zentralkomitees“ und „Zentralvereinen“, die eine überregionale Führung darstellten; die Vereinigung politischer Parteien aber blieb verboten, insbesondere auf lokaler oder Bezirks-Ebene. 1899 hob ein als „Lex Hohenlohe“ bezeichnetes Reichsgesetz das Verbindungsverbot für politische Parteien auf und wurde zur Grundlage eines neuen Parteienrechts. Erst nach Verabschiedung dieses Gesetzes war die Bildung lokaler parteipolitischer Wahlvereine, wie in Marburg, möglich.
(KU)


  1. Robert Michels ist 1903 in Marburg in die SPD eingetreten und kandidiert für die Sozialdemokraten in diesem Jahr im Wahlkreis Alsfeld im Vogelsberg für ein Reichstagsmandat. Seiner Kandidatur ist allerdings kein Erfolg beschieden.
  2. Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie (Philosophisch-soziologische Bücherei XXI), Leipzig 1911, S. 117.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Gründung eines Sozialdemokratischen Wahlvereins in Marburg, 29. August 1903“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2818> (Stand: 25.3.2021)
Ereignisse im Juli 1903 | August 1903 | September 1903
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