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Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Erste Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, 25. August - 29. September 1946

Im Jagdschloss Kranichstein bei Darmstadt finden die ersten „Ferienkurse für internationale Neue Musik“ (der Name wird später in „Internationale Ferienkurse für Neue Musik“ geändert) statt. Nachdem die Nationalsozialisten moderne Musik als „entartet“ verfemt und verboten hatten und viele Komponisten und Musiker umbrachten, ins Exil trieben oder mundtot machten, entwickelt der seit 1945 amtierende Kulturreferent und Leiter des Kulturamtes der Stadt Darmstadt, Dr. Wolfgang Steinecke (1910–1961) eine Initiative zur Etablierung einer Akademie für die „Neue Musik“, die unterschiedliche Kompositionsrichtungen der sogenannten ernsten Musik des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts zusammenfasst, und die sich vor allem durch eine Abkehr von überkommenen kompositorischen Mittel (besonders der Tonalität) auszeichnet. Steinecke schwebt dabei – ganz nach dem Vorbild der weltbekannten Salzburger Festspiele – eine Kombination aus Festivalprogramm und pädagogischen Veranstaltungen vor, um der Neuen Musik eine erste bedeutende Plattform in Deutschland zu schaffen. Der Leitgedanke seines Vorhabens zielt auf eine ganze Generation von Musikinteressierten in Deutschland, denen die Künstler der internationalen musikalischen Moderne der vergangenen Jahrzehnte erst wieder bekannt gemacht und nahegebracht werden müssen. In einem von Steinecke verfassten Beiblatt zum Programmheft der ersten Ferienkurse, das ein Manifest des programmatischen Neubeginns in der Musik des befreiten Deutschland nach 1945 darstellt, heißt es dazu:

Hinter uns liegt eine Zeit, in der fast alle wesentlichen Kräfte der neuen Musik aus dem deutschen Musikleben ausgeschaltet waren. Zwölf Jahre lang waren Namen wie die Hindemiths und Strawinskys, Schönbergs und Kreneks, Milhauds und Honeggers, Schostakowitschs und Prokoffiews, Bartoks, Weills und vieler anderer verpönt, zwölf Jahre lang hat eine verbrecherische Kulturpolitik das deutsche Musikleben seiner führenden Persönlichkeiten und seines Zusammenhanges mit der Welt beraubt. Der Niedergang der deutschen Musikkultur, über den man mit Kulturbetrieb und K.d.F. [Kraft-durch-Freude] -Opium hinwegzutäuschen suchte, wirkte sich am verhängnisvollsten bei der inzwischen heranwachsenden deutschen Musikergeneration aus. Wie sollte diese Generation, der man Marschlieder und Feiermusiken als höchste ideale pries, die man mit dem schalen Aufguss allerletzter Romantik zu ungebildeten und eingebildeten Kretins aufzupäppeln suchte, wie sollte diese Generation die wahre Lage der Dinge erkennen, wie sollte sie eine lebendige Beziehung zu den führenden Persönlichkeiten der neuen Musik gewinnen, von denen nicht einmal die Namen genannt werden, geschweige, daß ihre Werke erklingen durften?
Heute sind die engen Grenzen, in die das deutsche Musikleben über ein Jahrzehnt gefesselt war, gefallen. Möglichkeiten freier Entfaltung sind uns wiedergegeben. Aber diese Möglichkeiten können nur ausgeschöpft werden, wenn sie erkannt, wenn sie, zumal von der jungen Generation, freudig bejaht und mit eigener Initiative ergriffen werden. Erst wenn unser musikalischer Nachwuchs den Kontakt mit den wahrhaft schöpferischen Kräften der Zeit gewinnt, können diese Möglichkeiten im Sinne einer fruchtbaren Erneuerung des deutschen Musiklebens genutzt werden. Aus der Erkenntnis dieser Notwendigkeit ist der Gedanke der „Ferienkurse für internationale neue Musik“ entsprungen, wie sie von der Stadt Darmstadt vom 25. August bis 20. September 1946 durchgeführt werden. Die Darmstädter Ferienkurse stellen den ersten Versuch dar, eine aktive Auseinandersetzung mit den Gestaltungs- und Darstellungsproblemen der neuen Musik herbeizuführen. Die neue Musik wird hier nicht nur gehört, sondern erarbeitet. Dadurch unterscheidet sich das Darmstädter Unternehmen prinzipiell von den jetzt vielerorts wieder auflebenden zeitgenössischen Musikfesten, die meist über einen kleinen Kreis von Fachleuten nicht hinausdringen. Namhafte und gerade in Fragen der modernen Musik bewanderte Lehrkräfte sind in Darmstadt zusammengerufen worden, um den Nachwuchs in den Fachgebieten Komposition und Dirigieren, Kammermusik und Klavier, Violine und Gesang, Musikkritik und Opernregie an die Probleme der internationalen neuen Musik heranzuführen. Dadurch, daß ein großer Teil der Studierenden und Lehrkräfte in dem am Rande der Stadt gelegenen Jagdschloß Kranichstein Unterkunft finden konnte, ist eine intensive Gemeinschaftsarbeit und ein ständiger Erfahrungsaustausch zwischen den Teilnehmern ermöglicht. Musikverlage stellten für die fünfwöchige Dauer der Kurse Studienmaterial zur Verfügung. Komponisten und Theaterfachleute, Musikkritiker und Musikwissenschaftler halten Vorträge über alle Fragen der Gegenwartsmusik. Durch die Verbindung mit Radio Frankfurt können den Teilnehmern Einblicke in die Musikpraxis des modernen Rundfunks geboten werden. Studiokonzerte und öffentliche musikalische Veranstaltungen, insbesondere die zum Abschluß stattfindenden „internationalen zeitgenössischen Musiktage“, vermitteln das unmittelbare Erlebnis wichtige
[r] Werke der neuen Musik. In den Studiokonzerten, die im Rahmen dieser Musiktage vorgesehen sind, ist andererseits den besonders qualifizierten Kräften des musikalischen Nachwuchses Gelegenheit geboten, an die Öffentlichkeit zu treten.
Daß der Gedanke dieser Darmstädter Ferienkurse einer echten Notwendigkeit und einem allgemeinen Bedürfnis entsprungen ist, hat die unerwartet zahlreiche Beteiligung bewiesen. Aus ganz Deutschland sind mehr Anmeldungen eingegangen, als angenommen werden konnten. Etwa 100 Teilnehmer sind es, die aus allen Zonen, aus Berlin und München, aus Flensburg und Freiburg, aus Sachsen und dem Rheinland in Darmstadt zusammengekommen sind. Wenn sie aus der Arbeit dieser fünf Wochen eine innere Einstellung zu den Fragen der neuen Musik mitnehmen, wenn die Anregungen, die sie hier gewinnen (mehr als Anregungen können es naturgemäß nicht sein), weiter wirken und sie dazu bestimmen, den Kontakt mit den schöpferischen Kräften unserer Zeit zu vertiefen, so ist das Ziel, das sich die Darmstädter Ferienkurse stecken konnten, erreicht. Die Stadt Darmstadt ihrerseits fühlt sich durch die lebhafte und dankbare Anteilnahme des Musikalischen Nachwuchses ermutigt und verpflichtet, auf dem hier erstmals beschrittenen Wege weiter zu gehen und die Kranichsteiner Ferienkurse zu einer jährlich wiederkehrenden Einrichtung auszubauen.
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Bis 1969 werden die „Internationalen Ferienkurse für Neue Musik“ jährlich, ab 1970 alle zwei Jahre abgehalten.2 Anfangs beschränkt sich ihre Dauer auf rund zwölf Tage, mit Einführung des Zwei-Jahres-Rhythmus erfolgt eine deutliche Ausdehnung der Veranstaltungszeit auf zwei bis drei Wochen. 1948 geht aus den Ferienkursen, und abermals auf maßgebliche Initiative von Wolfgang Steinecke hin, das Internationale Musikinstitut (IMD) hervor. Aufgabe der anfänglich unter der Bezeichnung „Internationales Musikinstitut/Schloss Kranichstein“ firmierenden Einrichtung (zwischenzeitlich von 1949 bis 1962 „Kranichsteiner Musikinstitut“) ist die planvolle Fortführung der „Ferienkurse für internationale neue Musik“ und die Förderung der zwischen dem deutschen und dem internationalen Musikleben bestehenden Verbindungen. Die Grundlage hierfür bildet eine umfassende Bibliothek und die vollständige Sammlung aller wichtigen Werke der zeitgenössischen Musik, ergänzt durch ein Archiv von Tonträgern, Fachbüchern und -zeitschriften sowie ergänzender Dokumente. Dem IMD gelingt es noch unter Steinecke (erster Direktor des Instituts von 1948 bis 1961) sich international zu etablieren.
(OV/KU)


  1. Zitiert nach Rudolf Stephan, Kranichstein. Vom Anfang und über einige Voraussetzungen, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Von Kranichstein zur Gegenwart: 50 Jahre Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, hrsg. im Auftrag des Internationalen Musikinstituts Darmstadt, Stuttgart 1996, S. 21-27, hier S. 21.
  2. Enttäuschende Ergebnisse des zu den 25. Ferienkursen ausgeschriebenen Kompositionswettbewerbs, kontroverse öffentliche Debatten um ihre Reformbedürftigkeit und eine – erst von außen herangetragene, und schließlich auch vom Leiter der Ferienkurse Ernst Thomas (der 1962 Wolfgang Steinecke nach dessen überraschendem Tod im Dezember 1961 nachfolgt) diagnostizierte – künstlerische Krise der neuen Musik veranlassen den Darmstädter Magistrat im Februar 1971, die Veranstaltungsreihe nur noch alle zwei Jahre abzuhalten. Offiziell wurde davon gesprochen, dass man „das kursfreie Jahr 1971“ dazu nutze, „die technischen Einrichtungen des Instituts [des Internationalen Musikinstituts] erheblich zu erweitern und zu verbessern.“ Vgl. Antonio Trudu, Zur Entstehungsgeschichte des Internationalen Musikinstituts Darmstadt, in: Rudolf Stephan u. a. (Hrsg.), Von Kranichstein zur Gegenwart: 50 Jahre Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, hrsg. im Auftrag des Internationalen Musikinstituts Darmstadt, Stuttgart 1996, S. 11-16, hier: S. 15. Zu den 1970/71 geführten Kontroversen um die Ferienkurse vgl. eingehend: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.8.1972, S. 9: Musik nach revolutionärem Gesamtkonzept? Der Versuch, die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik agitatorisch zu unterwandern.
Belege
Weiterführende Informationen
Hebis-Klassifikation
8227, Veranstaltung
Hebis-Schlagwort
Internationale Ferienkurse für Neue Musik, Darmstadt; f Ausstellung ; g Darmstadt <1996>; Geschichte
Empfohlene Zitierweise
„Erste Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, 25. August - 29. September 1946“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/139> (Stand: 9.12.2022)
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