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Pfiffe für Willy Brandt von Hausbesetzern in Frankfurt, 3. Oktober 1970

Bundeskanzler Willy Brandt (1913–1992; SPD) wird an der Hauptwache in Frankfurt am Main nicht nur mit Beifall, sondern auch mit Pfiffen von etwa 600 Demonstranten der „Aktionsgemeinschaft Westend“ (AGW) empfangen, die mit Spruchbändern auf die Zerstörung durch Grundstücksspekulanten sowie auf Mietwucher hinweisen. Brandt, aber auch der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Möller (1920–1971; SPD) und Ministerpräsident Albert Osswald (1919–1996; SPD), die die Wahlkampf-Kundgebung der SPD an der Hauptwache mitgestalten, sehen sich Slogans wie „Mieterschutz statt Eigennutz“, „Ohne Mieterschutz kein sozialer Frieden“, „Westend ist kein wilder Westen“ oder „Schluß mit dem Mietwucher“ gegenüber. Die Mitglieder der „Aktionsgemeinschaft“, die vorab einen Demonstrationszug durch die Innenstadt organisiert hatten, verteilen sich medienwirksam mit Spruchtransparenten und schwarzen Fahnen unter die etwa 3.000 anwesenden Kundgebungsteilnehmer und Zuschauer. Osswald, der in seinem Redebeitrag sowohl die Sicherung des Friedens in Europa als auch die perspektivische Absicherung und Erweiterung des Wohlstands in Hessen als vorrangige politische Ziele der Sozialdemokratie bezeichnet, wird mit Zurufen wie „Skandal“, „Kapitalistenregierung“ und „Wir wollen bessere Wohnungen“ bedacht. Walter Möller ergeht es nicht besser. Seine Lobrede auf die sozialreformerischen Initiativen der Regierung Brandt wird von „Witzbold“ und „Lügner“ skandierenden Stimmen begleitet. Willy Brandt schließlich, der sich zu Beginn seiner etwa zwanzigminütigen Rede ebenfalls als „Arbeiterverräter“ und „Schwätzer“ betitelt sieht, betont mit Blick auf die kontrovers geführte Diskussion um die Hausbesetzungen im Frankfurter Westend, dass die Befriedigung öffentlicher Allgemeininteressen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Verkehr und Wohnen gegenüber privatwirtschaftlichen Gewinnstreben ins Hintertreffen geraten sei. Er verspricht, die Mieter durch verschärfte Vorschriften künftig besser vor Wucherforderungen der Hauseigentümer zu schützen und äußert die Hoffnung, über eine gerechtere Städtebaupolitik die Verhältnisse zum Besseren zu wenden. Seine abschließenden Worte zum Ost-West-Dialog und dem am 12. August 1970 von der Bundesregierung mit der Sowjetunion geschlossenen Moskauer Vertrag finden dagegen weitgehend Zustimmung.
(KU)

Belege
Empfohlene Zitierweise
„Pfiffe für Willy Brandt von Hausbesetzern in Frankfurt, 3. Oktober 1970“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/1285> (Stand: 3.10.2022)
Ereignisse im September 1970 | Oktober 1970 | November 1970
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