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Verleihung des Hessischen Kulturpreises an Jürgen Habermas, Marcel Reich-Ranicki und Siegfried Unseld, 18. Dezember 1999

Der Hessische Kulturpreis wird in diesem Jahr mit Jürgen Habermas (geb. 1929), Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) und Siegfried Unseld (1924–2002) an besonders prominente Persönlichkeiten der Hessischen Kulturlandschaft vergeben. „Zeichneten sich die Feiern zur Verleihung des Hessischen Kulturpreises in den letzten Jahren durch wohltuende Schlichtheit aus, so ging es, inklusive musikalischer Umrahmung, sehr repräsentativ und feierlich zu“1, berichtet die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung anlässlich der Preisverleihung, die im Wiesbadener Kurhaus stattfindet. Der mit jeweils 30.000 DM dotierte Stiftungspreis wird durch Ministerpräsidenten Roland Koch (geb. 1958; CDU) vergeben, der in seiner Lobesrede die Auszeichnung der drei Preisträger als „Ehre für das Land2 bezeichnet.

Jürgen Habermas, einer der bedeutendsten Philosophen und Soziologen der Gegenwart, ist bekannter Vertreter der „Kritischen Theorie“3 und hatte unter anderem an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Nachfolger des Philosophen Martin Heideggers einen Lehrstuhl für Soziologie und Philosophie inne. Neben seinem Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“4 veröffentlichte er viele weitere bedeutende philosophische und soziologische Schriften, engagierte sich in der Studentenbewegung der 1967/68er in Frankfurt, publiziert konstant in unter anderem der „Zeit“ und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und übt Lehrtätigkeiten an Universitäten in Deutschland und im Ausland, insbesondere den USA, aus. Er gilt durch sein langjähriges, vielfältiges und einflussreiches Wirken als einer der bedeutendsten und engagiertesten linken Intellektuellen Deutschlands und genießt darüber hinaus internationale Bekanntheit. In seiner Lobesrede auf Jürgen Habermas äußert sich Ministerpräsident Koch, „in keiner der großen Debatten der letzten Jahrzehnte habe die Stimme des Frankfurter Philosophen und Soziologen gefehlt. Von diesem Vertreter der Kritischen Theorie, einem ‚engagierten Streiter für Humanität und Demokratie‘, könne auch ein konservativer Politiker lernen: die Unbedingtheit des aufklärerischen Impetus, den Glauben an die Möglichkeit des rationalen Diskurses und den Verzicht auf Denkverbote.5

Auch der zweite Preisträger, Marcel Reich-Ranicki, gehört zu den prominentesten Intellektuellen Deutschlands. Als Holocaust-Überlebender, der lange Zeit im Warschauer Ghetto und auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verbringen musste, begann Marcel Reich-Ranicki, eigene Texte niederzuschrieben und war in der Jüdischen Kampforganisation aktiv. Er gilt deshalb auch als zentrale Figur des jüdischen Widerstands während des Nationalsozialismus. Nach Kriegsende machte sich Reich-Ranicki neben Tätigkeiten als Autor und Publizist in erster Linie als Literaturkritiker einen Namen. Als Leiter der F.A.Z.-Literaturredaktion und in den darauf folgenden Jahren avancierte Reich-Ranicki zum einflussreichsten zeitgenössischen deutschen Literaturkritiker, seit 1988 leitet er die ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“. Für seinen Beitrag zum kulturellen Leben in Hessen ehrt ihn die Landesregierung mit einem „schon beinahe überfälligen“ Kulturpreis.6 In seiner Lobesrede stellt Roland Koch ihn in „die große Tradition der deutschen Literaturkritik eines Theodor Fontane, Alfred Kerr, Karl Kraus, Kurt Tucholsky7 und auch Habermas hält eine Rede zur Würdigung Reich-Ranickis, in der er feststellt, er „staune über die rätselhaften Kräfte eines Lebens, das dies alles ausgehalten habe, er bewundere die moralische Energie, das Selbstvertrauen und die Intelligenz dieses einflussreichsten deutschen Literaturkritikers.8

Auch bei dem dritten Preisträger der diesjährigen Verleihung handelt es sich um eine zentrale Figur der Literaturszene Frankfurts. Siegfried Unseld, der Gemanistik, Philosophie und Bibliothekswissenschaft studiert hat, übernahm nach dem Tod des Gründers Peter Suhrkamp 1959 den Verlag Suhrkamp und in den darauffolgenden Jahren die Verlage Deutscher Klassiker Verlag, Insel und Jüdischer Verlag. Ministerpräsident Koch bezeichnet Unseld, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet, als „einen der größten Verleger in der Geschichte der deutschen Literatur“. Ihm gelinge es immer wieder, „die ganze Welt zu einem einzigartigen Buchtitel zu machen“. Der unermüdliche Einsatz seines Verlags für die literarische und wissenschaftliche Avantgarde habe den viel zitierten Begriff der „Suhrkamp-Kultur“ geprägt. Nicht wenige bekannte Autoren seien von Unseld entdeckt und geduldig aufgebaut worden, so unter anderem Peter Handke oder Uwe Johnson.9 Für seinen Wirken im Verlagswesen wird Siegfried Koch deshalb mit dem Hessischen Kulturpreis ausgezeichnet.

Der Kulturpreis des Landes Hessens wird seit 1982 jährlich vergeben und dient der Auszeichnung und Würdigung herausragender Persönlichkeiten aus den Gebieten der Kunst, Wissenschaft und Kultur. In diesem Jahr werden drei Schlüsselfiguren des kulturellen Frankfurts geehrt.
(NT)


  1. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.12.1999, Nr. 50, S. 28: Philosoph, Kritiker, Verleger.
  2. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.12.1999, S. 28: Philosoph, Kritiker, Verleger.
  3. Als Kritische Theorie oder auch Frankfurter Schule wird eine Gesellschaftstheorie bezeichnet, die sich im Wesentlichen auf Annahmen und Ausführungen Sigmund Freuds, Karl Marx und Georg Hegel stützt. Wichtigste Vertreter sind neben Habermas Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Max Horkheimer.
  4. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1981.
  5. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.12.1999, S. 28: Philosoph, Kritiker, Verleger.
  6. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.11.1999, S. 72: „Angesehene Persönlichkeiten“. Hessischer Kulturpreis für Reich-Ranicki, Habermas und Unseld.
  7. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.12.1999, S. 28: Philosoph, Kritiker, Verleger.
  8. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.12.1999, S. 28: Philosoph, Kritiker, Verleger.
  9. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.11.1999, S. 72: „Angesehene Persönlichkeiten“. Hessischer Kulturpreis für Reich-Ranicki, Habermas und Unseld.
Belege
  • Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.12.1999, S. 28: Philosoph, Kritiker, Verleger
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.11.1999, S. 72: „Angesehene Persönlichkeiten“. Hessischer Kulturpreis für Reich-Ranicki, Habermas und Unseld
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Verleihung des Hessischen Kulturpreises an Jürgen Habermas, Marcel Reich-Ranicki und Siegfried Unseld, 18. Dezember 1999“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/5509> (Stand: 18.12.2021)
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