Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Percy Graf von Bernstorff, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Kassel an den Kaiser, 1917-1918

Abschnitt 6: Bericht vom 25. Januar 1917 (6)

[953-954] Über die Erwerbsverhältnisse der Bevölkerung kann ich berichten, daß sie im allgemeinen günstig sind. Wie schon eingangs erwähnt, haben gerade die hier ansässigen Industrien große Kriegslieferungen und große Verdienste. Die Löhne der Arbeiter sind erheblich gestiegen, in stärkerem Verhältnis wie die Preise der Lebenshaltung. Auch jede arbeitswillige Frau findet lohnende Beschäftigung. In allen Transportgewerben, kaufmännischen Geschäften sowie bei vielen Behörden werden Frauen eingestellt, so daß schon in den Familien geklagt wird, daß das weibliche Gesinde nicht mehr im Dienst bleiben will. Neue Fabriken sind entstanden oder im Entstehen: in Kassel eine Munitionsfabrik, die achttausend Arbeiter beschäftigt, bei Hanau eine Fabrik für Flugzeuge. Andere Fabriken haben sich für die Militärlieferungen eingerichtet. Der leidende Teil der Bevölkerung ist hiernach nur der auf ein festes Einkommen angewiesene, die kleineren Beamten, Angestellten, Witwen, Pensionäre, die allerdings die fortdauernden, steigenden Ausgaben mit ihren gleichbleibenden, vielfach durch Ausfall von Zinsen oder Mieten verringerten Einnahmen nur schwer, oft gar nicht in Einklang bringen können.

Nach zweiundeinhalbjähriger Dauer des Krieges ist die Bevölkerung jetzt von der leidenschaftlichen Aufwallung der ersten Kriegsmonate weit entfernt, sie ist ruhig und kühl. Doch ist die Grundstimmung immer noch die, daß das Volk bereit ist, alle Opfer auf sich zu nehmen, von deren Unvermeidlichkeit es überzeugt wird. Gelingt dies nicht, trägt es die Opfer unwillig und sucht sich ihnen zu entziehen. Daß im Volk eine Friedenssehnsucht besteht, ist zweifellos, und deshalb hat Ew. Majestät Friedensangebot vom 12.Dezember in weiten Kreisen einen dankbaren Widerhall gefunden. War aber irgend etwas geeignet, den Willen zum entschlossenen Durchhalten bis zum endgültigen Siege zu festigen, so war es die leichtfertige, anmaßende Ablehnung dieses hochherzigen Angebots durch unsere Feinde. Diese hat alle schwankenden Stimmen bekehrt, ohne andererseits die stille Hoffnung bei uns ganz zu [S. 954] ersticken, daß der Friede doch eines Tages früher kommen kann, wie es jetzt scheint, und daß dieser Friede uns für die gebrachten Opfer entschädigen wird.

Regierungspräsident
Graf von Bernstorff


Personen: Bernstorff, Percy Graf von · Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser
Orte: Kassel · Hanau
Sachbegriffe: Kriegsaufträge · Löhne · Arbeiter · Preise · Frauenarbeit · Transportgewerbe · Behörden · Gesinde · Fabriken · Munitionsfabriken · Flugzeugfabriken · Rüstungsindustrie · Beamte · Angestellte · Mieten · Friedenssehnsucht · Stimmungslage
Empfohlene Zitierweise: „Percy Graf von Bernstorff, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Kassel an den Kaiser, 1917-1918, Abschnitt 5: Bericht vom 25. Januar 1917 (6)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/26-6> (aufgerufen am 18.04.2024)