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Erlass des preußischen Innenministers zur Fingerabdrucknahme bei Sinti und Roma, 3. November 1927

Das preußische Innenministerium ordnet eine Erfassung nicht sesshafter Sinti und Roma1 durch Fingerabdrucknahme an: „[Es] sind Fingerabdrücke von allen nicht seßhaften Zigeunern und nach Zigeunerart umherziehenden Personen zu nehmen. Diese Bestimmung ist deshalb notwendig, weil auf diese Personen die Bestimmungen über die polizeiliche Meldepflicht in der Regel praktisch nicht anwendbar sind und die Feststellung ihrer Persönlichkeit darum oft nicht möglich ist.2

Es folgt eine ausführliche Beschreibung der durchzuführenden Maßnahmen, um eine möglichst lückenlose Erfassung der Sinti und Roma durch Fingerabdrucknahme zu ermöglichen. Unter anderem wird ein Mindestalter von 6 Jahren für die Erfassung festgelegt, allen erfassten Personen soll eine Bescheinigung über die Fingerabdrucknahme ausgestellt werden. Diese sollen regelmäßig auf ihre Gültigkeit und Echtheit überprüft werden. Alle Behörden, die über „photographisches Gerät“ verfügen, werden dazu verpflichtet, neben der Fingerabdrucknahme von allen Personen über 18 drei Fotografien anzufertigen, die den Fingerabdrücken beigefügt werden.3

Schon im April 1927 hatte Fritz Ehrler, Regierungspräsident in Wiesbaden, die systematische Fingerabdrucknahme von Sinti und Roma in Hessen-Nassau angeordnet.4 Nach dem preußischen Runderlass findet im ganzen Raum Hessen eine Erfassung der Fingerabdrücke aller umherziehenden Sinti und Roma statt. Davon zeugt etwa ein Liste der durchgeführten Fingerabdrucknahmen aus Frankenberg.5

In Hersfeld bittet im Dezember 1927 die für die Überwachung der Sinti und Roma zuständige Landjägerabteilung den Landrat um eine Verfügung zur schärferen Überwachung der Sinti und Roma durch die Ortspolizeibehörden.6 Auch in Hofgeismar wird an eine strengere Überwachung der Sinti und Roma gebeten: „Im Kreise Hofgeismar sind in letzter Zeit sehr häufig Zigeunerbanden aufgetaucht, die sich in einzelnen Gemeinden tagelang beschäftigungslos aufgehalten haben, weil es seitens der Ortspolizeibehörden unterlassen worden ist, den zuständigen Landjägereibeamten von der Anwesenheit der Zigeuner Kenntnis zu geben. Durch die Unterlassung der sofortigen Benachrichtigung des Landjägers erfährt der Abtransport der Zigeunerbanden bedauerlicherweise eine Verzögerung, die im allgemeinen öffentlichen Interesse höchst unerwünscht ist und von der Bevölkerung sehr unangenehm empfunden wird.7

In den 1920er Jahren werden Maßnahmen zur Erfassung und Überwachung von Sinti und Roma ausgeweitet und perfektioniert. Sie werden dadurch als soziale Randgruppe per se als kriminalisiert, systematisch ausgegrenzt und diskriminiert. Betroffen sind davon nicht nur Sinti und Roma, sondern auch alle anderen nicht sesshaften Personen, die pauschal zu der Gruppe der „Zigeuner“ hinzugezählt werden.8
(NT)


  1. Der zeitgenössisch geläufige Begriff „Zigeuner“ ist eine diskriminierende Fremdbezeichung, weshalb abgesehen von Quellenzitaten die Eigenbezeichnung „Sinti und Roma“ zu verwenden ist.
  2. Runderlass des preußischen Innenministers zur Fingerabdrucknahme bei Sinti und Roma, 3. November 1927, in: Digitales Archiv Marburg, Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen von der frühen Neuzeit bis nach dem II. Weltkrieg, HStAM Best. 180 Nr. 2767.
  3. Runderlass des preußischen Innenministers zur Fingerabdrucknahme bei Sinti und Roma, 3. November 1927, in: Digitales Archiv Marburg, Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen von der frühen Neuzeit bis nach dem II. Weltkrieg, HStAM Best. 180 Nr. 2767.
  4. Weiterleitung eines Schreibens des Regierungspräsidenten in Wiesbaden zur Fingerabdrucknahme bei Sinti und Roma an die Polizeiverwaltung in Biedenkopf, 11. April 1927, in: Digitales Archiv Marburg, Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen von der frühen Neuzeit bis nach dem II. Weltkrieg, HStAM Best. 330 Biedenkopf A 628.
  5. Auflistung der durchgeführten Fingerabdrucknahmen bei Sinti und Roma in Frankenberg, in: Digitales Archiv Marburg, Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen von der frühen Neuzeit bis nach dem II. Weltkrieg, HStAM Best.330 Frankenberg Nr. 3613.
  6. Schreiben der Landjägerabteilung Hersfeld an den Landrat in Hersfeld mit der Bitte um die Herausgabe einer Verfügung zur schärferen Überwachung der Sinti und Roma durch die Ortspolizeibehörden, in: Digitales Archiv Marburg, Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen von der frühen Neuzeit bis nach dem II. Weltkrieg, HStAM Best. 180 Hersfeld Nr. 2767.
  7. Schreiben des Landrats in Hofgeismar an die Ortspolizeibehörden zur strengeren Beachtung der Anordnungen gegen „Zigeuner“, in: Digitales Archiv Marburg, Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen von der frühen Neuzeit bis nach dem II. Weltkrieg, HStAM Best. 330 Helmarshausen A 1560.
  8. Engbring-Romang, Udo: Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950, Bamberg 2001, S. 87-100.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Erlass des preußischen Innenministers zur Fingerabdrucknahme bei Sinti und Roma, 3. November 1927“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/5587> (Stand: 26.11.2021)
Ereignisse im Oktober 1927 | November 1927 | Dezember 1927
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