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Der hessische Minister für Umwelt und Energie, Joschka Fischer, legt eine Untersuchung über den sofortigen Verzicht auf die Atomtechnologie („Ausstiegs-Szenario“) vor, 22. Mai 1986

Als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 legt der hessische Minister für Umwelt und Energie, Joschka Fischer (geb. 1948; DIE GRÜNEN) eine Untersuchung über die Möglichkeiten und Konsequenzen eines sofortigen Verzichts auf die Atomenergietechnik vor. Das „Ausstiegs-Szenario“ genannte Papier basiert im Wesentlichen auf einer kurzfristig durch das in Hannover ansässige Institut für angewandte Systemforschung und Prognose (ISP) aktualisierten Szenario-Rechnung, die bereits im Oktober 1984 vorgelegt wurde,1 und liefert eine Bestandsaufnahme und Untersuchung der technischen Möglichkeiten für den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergieversorgung in der Bundesrepublik sowie eine Beschreibung der energiewirtschaftlichen Konsequenzen einer sofortigen Stilllegung der Atomkraftwerke Biblis A und B für das Land Hessen. Die Studie wird im Sommer 1986 durch das Referat Öffentlichkeitsarbeit im hessischen Umwelt- und Energieministerium in überarbeiteter Form unter dem Titel „Energieversorgung ohne Atomkraft“ veröffentlicht. In der Frage der Machbarkeit eines bundesweiten Atomausstiegs kommt das Papier zu folgender zusammenfassender energiepolitischer Bewertung:2

Ein sofortiger Ausstieg aus der Atomenergie bedeutet, daß eine Netto-Kraftwerksleistung von rd. 16,2 GW der in Betrieb befindlichen Anlagen (Stand: 1.1.1986) vom Netz genommen werden muß. Hinzu kommen die rund 2,5 GW Leistung (netto) der Atomkraftwerke Mühlheim-Kärlich und Brokdorf, für die 1986 die Aufnahme des Vollastbetriebs geplant ist. Weiter im Bau befinden sich die Atomkraftwerke Lingen, Ohu 2 und Neckarwestheim 2.
Das sprunghafte Anwachsen der Atomkraftwerkskapazität gegenüber 1983 um zusätzliche rund 6,3 GW netto (Gundremmingen B + C, Grohnde, Philippsburg 2, Brokdorf und Mühlheim-Kärlich) hat bei einigen Versorgungsunternehmen zu einem Atomstromanteil von mehr als 60% geführt und sie in eine gefährliche Abhängigkeit von diesem Energieträger gebracht. Vor Jahren wäre der Ausstieg aus der Atomenergie daher noch zu einem wesentlich günstigeren energie- und gesellschaftspolitischen „Preis“ machbar gewesen als heute. Dieser „Preis“ wird jedoch mit jedem Jahr des Weiterbetriebs und zusätzlichen Ausbaus von Atomkraftwerken allein schon wegen der Atommüllproblematik überproportional weiter anwachsen. Es muß daher schnell gehandelt werden. das Szenario zeigt, daß auch bei den heutigen Vorgaben der sofortige Ausstieg aus der Atomkraft im Jahre 1986/87 technisch möglich ist. Eine wichtige Voraussetzung dafür, nämlich die Verringerung des Strombedarfs um 15% innerhalb von fünf Jahren, ist bereits genannt worden. Dabei können auch bei sofortigem Ausstieg die Emissionen in etwa konstant gehalten werden. Voraussetzung dafür ist, daß kurzfristig die in Kapitel 1 erläuterte neue Strategie beim Umgang mit dem vorhandenen Kraftwerkspark
[= Erheblich höhere Arbeitsausnutzung der bestehenden fossilen Kraftwerke bei gleichzeitiger „Optimierung“ der Schadstoffemissionen. – K.U.] gefahren wird. Vor allem zwei Schwierigkeiten, die dabei entstehen könnten, verdienen besondere Beachtung: Fraglich ist zum einen, ob eine ausreichende Menge schwefelarmer Importkohle kurzfristig beschafft werden kann (13 Mio. t SKE), die anstelle der schwefelhaltigen deutschen Kohle übergangsweise bis zur Installierung von Rauchgasreinigungseinrichtungen verfeuert wird. Wenn sich diesbezüglich Probleme ergeben, ist es eine Frage der umweltpolitischen Abwägung, ob zugunsten der sofortigen Vermeidung der Risiken der Atomkraftnutzung vorübergehend höhere „klassische Emissionen“ bei SO2 und NOx in Kauf genommen werden sollen.
Auch in der Frage der erforderlichen Netzkapazität könnten sich, einen sofortigen vollständigen Ausstieg vorausgesetzt, kurzfristig Probleme ergeben. Andererseits ist hierbei zu berücksichtigen, daß derzeit die natürliche Übertragungsleistung (Dauerübertragungsleistung) des 380 KV-Netzes nur zu rd. 25% ausgenutzt wird. Die bislang zur Aufrechterhaltung der Betriebssicherheit der Atomkraftwerke notwendige kurzfristige Übertragungskapazität des 380 KV-Netzes steht außerdem nach der Stillegung für eine erhöhte Dauerübertragungsleistung zur Verfügung. hinzu kommt, daß sowohl die stillzulegenden Atomkraftwerkskapazitäten als auch die nach der Stillegung entstehende Kapazitätsstruktur (in Relation zum regionalen Bedarf) über die Bundesländer so verteilt sind, daß gegenüber den bisherigen Verhältnissen ein zwar erhöhter Transportbedarf vor allem von Nordrhein-Westfalen nach Süden entsteht. hierzu stehen jedoch auch noch unausgenutzte Transportkapazitäten im 220 KV_Netz zur Verfügung. Zusätzliche Netzverstärkungskosten von insgesamt 5 Mrd. DM (0,7 Mrd. pro Jahr), wie sie im Ausstiegsszenario eingerechnet werden, sind daher nicht zwangsläufig zu erwarten.
das Szenario wird von den Autoren insofern als „Gedanken-Experiment“ bezeichnet, als die grundsätzlich positive Aussage über die technische „Machbarkeit“ eines Ausstiegs aus der Kernenergie mit der Forderung nach weiteren Untersuchungen verknüpft wird. Es versteht sich von selbst, daß z. B. die wesentlichen politisch-rechtlichen Probleme des Ausstiegs aus der Kernenergie noch untersucht und die konkreten energiepolitischen Optimierungsmöglichkeiten weiter im Detail geprüft werden müssen.
Es kommt vor allem darauf an, den Ausstieg aus der Atomenergie mit einem umfassenden und schnell wirksamen Konzept für den Einstieg in ein alternatives, ökologisch und sozialverträgliches Energiesystem zu verbinden. Die notwendige Verringerung des Strombedarfs um 15% innerhalb von fünf Jahren muß insbesondere durch eine Politik forcierter rationeller Energienutzung (ohne Komfortverzicht) erreicht werden. Der durch die bisherige verfehlte Energiepolitik künstlich herbeigeführte Zielkonflikt zwischen dem Verzicht auf Atomenergie und dem vorübergehenden Mehreinsatz fossiler Energieträger (einschließlich der damit verbundenen Umweltprobleme) kann und muß durch ein flankierendes Umsetzungskonzept für Energiesparmaßnahmen rasch abgebaut werden. Hierzu besteht jetzt nicht nur eine einmalige und vielleicht letzte historische Chance, sondern auch eine große Motivation und überwältigende Akzeptanz bei einer breiten Bevölkerungsmehrheit.

Daneben beurteilen die Verfasser der Studie die sofortige Abschaltung der Blöcke A und B des Atomkraftwerks Biblis für technisch möglich, ohne mit einem solchen Schritt „die Sicherheit der Stromversorgung in Hessen oder anderswo zu gefährden“. Untermauert wird diese These durch eine Gegenüberstellung der durch den Kraftwerksbetreiber RWE maximal zur Verfügung gestellten elektrischen Kraftwerks- und Bezugsleistung (27.000 MW), der von Biblis A und B gelieferten Leistung (2.386 MW) und den Verbrauchsspitzenwerten der hessischen Stromverbraucher in den Wintermonaten der Jahre 1984 und 1985 (rund 20.000-21.000 MW). Bei völligem Verzicht auf die beiden Druckwasserreaktoren in Biblis würde sich die dem Spitzenbedarf gegenüberstehende Überdeckung von 30 Prozent (6.300 MW) auf 19 Prozent (3.900 MW) verringern. Nach Ansicht der Autoren könne daher „für die Deckung der Höchstlast [...] auf Biblis verzichtet werden, eine Behauptung, die dadurch untermauert wird, daß im Winter 1983/84 beide Blöcke außer Betrieb waren, ohne daß Versorgungsstörungen eintraten.3
(KU)


  1. Karl-Friedrich Müller-Reißmann/Joey Schaffner, Zwei Szenarien zum Ausstieg aus der Kernenergie. Modifikation und Aktualisierung der Studie „Ökologische gegen betriebswirtschaftliche Optimierung der öffentlichen Stromerzeugung in der Bundesrepublik“ vom Oktober 1984, Hannover Juni 1986.
  2. Zitiert nach Der Hessische Minister für Umwelt und Energie (hrsg. Körperschaft): Energieversorgung ohne Atomkraft. Bericht. Möglichkeiten für den sofortigen Verzicht auf Atomenergie bei der Stromversorgung der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Hessen aus energiewirtschaftlicher Sicht (Ausstiegsszenario), Wiesbaden 1986, S. 17. Hervorhebungen im Original.
  3. Ebd., S. 30.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Der hessische Minister für Umwelt und Energie, Joschka Fischer, legt eine Untersuchung über den sofortigen Verzicht auf die Atomtechnologie („Ausstiegs-Szenario“) vor, 22. Mai 1986“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/4613> (Stand: 22.5.2022)
Ereignisse im April 1986 | Mai 1986 | Juni 1986
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