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Tumulte bei Demonstration des VVN vor dem Hessischen Landtag, 14. Dezember 1949

Bei einer Demonstration der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in Hessen kommt es zu tumultartigen Szenen vor und im Wiesbadener Schloss, in dem zu dieser Zeit der Hessische Landtag eine Plenarsitzung abhält. Der Landesvorstand des VVN hatte die Mitglieder in Hessen zu einem Marsch nach Wiesbaden aufgerufen, um mit Nachdruck auf Forderungen der Vereinigung auf Abänderung des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts hinzuweisen. Aus einem Zehn-Punkte-Memorandum wird vor allem auf die Forderungen hingewiesen, einen Wiedergutsmachungsrat einzusetzen, der mit der Landesregierung bzw. den zuständigen Stellen alle strittigen Fragen klären solle, und zum anderen auf die Forderung, die bereits gezahlten Beträge nicht auf die Haftentschädigung anzurechnen.

Gegen zehn Uhr versammeln sich nach dem Bericht des Korrespondenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwa 1.500 mit Sonderzügen und LKW aus ganz Hessen angereiste Verfolgte des Naziregimes auf dem Wiesbadener Schlossplatz vor dem Landtag. Sie führen Transparente und Spruchbänder mit, einzelne Demonstranten tragen ihre ehemalige KZ-Kleidung oder ihre Häftlingsabzeichen.

Im Vorraum des Landtags empfängt zunächst Minister Werner Hilpert (1897–1957; CDU) in Vertretung des erkrankten Ministerpräsidenten Georg August Zinn (1901–1976; SPD) Sprecher der Demonstranten. Hilpert spricht sich für eine Vereinfachung der Antragsverfahren und ihre rasche Erledigung aus. Der zu dieser Zeit tagende Landtag überweist einen Antrag der KPD-Fraktion, die sich zum Sprecher der Verfolgten macht, an den Rechtsausschuss. Anträge auf Unterbrechung der Plenarsitzung und Anhörung der Demonstranten lehnt die Landtagsmehrheit jedoch ab. Der Landtagsabgeordnete der KPD, Emil Carlebach (1914–2001), gibt den Demonstranten auf dem Schlossplatz das Ergebnis von einem Lautsprecherwagen aus bekannt und erklärt, mit der Überweisung an den Rechtsausschuss seien die Forderungen des VVN formal abgelehnt. An die Demonstranten gewandt ruft er aus: Wir haben es gelernt, vor der SS zu stehen, wir werden auch heute trotz der Winterkälte hier stehen bleiben, um unsere Forderungen den Abgeordneten darzulegen. Denn wir stehen nicht allein für eine gerechte Haftentschädigung hier, sondern für die Erhaltung des älteren Rechts.

Daraufhin drängen die erregten Demonstranten mit dem Ruf, die Minister und Abgeordneten selbst sprechen zu wollen, in das Landtagsgebäude ein. Kurz nach elf Uhr kommt es zu Tumultszenen im Eingangsbereich des Landtags, sodass eine in Bereitschaft wartende Polizeikolonne herbeigerufen wird. Nur mit Mühe gelingt es der Polizei, das Gebäude abzuriegeln.

Inzwischen hat die SPD-Fraktion einen Dringlichkeitsantrag in den Landtag eingebracht, an politisch, rassisch oder religiöse Verfolgte noch vor Weihnachten eine Vorschusszahlung zu leisten. Der sozialdemokratische Sprecher begrüßt es ausdrücklich, dass die Verfolgten jetzt ihre Stimmen erhoben hätten. Nur weil ein Teil der Abgeordneten bei der Abstimmung nicht anwesend gewesen sei, habe es zur Ablehnung des KPD-Antrags kommen können. Die KPD-Fraktion stellt zugleich den Antrag, die bisher gezahlten Entschädigungen nicht auf die Haftentschädigung der Verfolgten anzurechnen. In der Abstimmung wird der Antrag der SPD angenommen, der der KPD an den Rechtsausschuss verwiesen. Der Abgeordnete Emil Carlebach teilt den Demonstranten innerhalb und außerhalb des Landtagsgebäudes das Ergebnis mit und fordert sie auf, sich umgehend mit den örtlichen Betreuungsstellen wegen des bewilligten Vorschusses in Verbindung zu setzen. Carlebach kündigt einen erneuten Marsch der VVN an, sollten die Forderungen nicht erfüllt werden. Daraufhin verlassen die Demonstranten mit dem Sprechchor „Wir kommen wieder!“ das Landtagsgebäude.

Im weiteren Verlauf der Landtagssitzung wird ein Antrag des CDU und der SPD betreffend die Leistung der Ministerialzulage gegen die Stimmen der KDP angenommen. Ein Initiativantrag der FDP zur Frage von Pensionszahlungen an ehemalige Wehrmachtsangehörige wird mit Verweis auf das inzwischen beschlossene Gesetz für erledigt erklärt.
(OV)

Belege
Empfohlene Zitierweise
„Tumulte bei Demonstration des VVN vor dem Hessischen Landtag, 14. Dezember 1949“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/3829> (Stand: 29.4.2021)
Ereignisse im November 1949 | Dezember 1949 | Januar 1950
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