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Theodor W. Adorno-Preis für Jürgen Habermas, 11. September 1980

Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas (geb. 1929) erhält in der Frankfurter Paulskirche den Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main, der seit 1977 als Ehrung an Persönlichkeiten verliehen wird, die sich mit herausragenden Leistungen um die Gebiete Philosophie, Musik, Theater und Film verdient gemacht haben.

Anerkennung der Fortführung der von Adorno und Horkheimer gesetzten Impulse

Mit der Verleihung des 1976 gestifteten und mit 50.000 DM dotierten Preises beabsichtigt das vom Magistrat der Stadt Frankfurt am Main einberufene Kuratorium, das von Habermas verfasste Werk als Fortführung der kritischen Impulse der von Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895–1973) begründeten „Frankfurter Schule“ zu würdigen.

Nach Ansicht des Kuratoriums gilt Habermas‘ „besondere Aufmerksamkeit vor allem dem Wandel des öffentlichen gesellschaftlichen Bewusstseins“. Vor diesem Hintergrund habe er mit zahlreichen Arbeiten „die Zusammenhänge zwischen den ökonomischen Strukturen und den gesellschaftlichen Bedingungen des Denkens in der heutigen wissenschaftlich-technischen Welt untersucht“. Seine Erkenntnisse seien „von weitreichender Wirkung und haben damit der deutschen Sozialwissenschaft zu internationalem Ansehen verholfen“.1

Jürgen Habermas, 1964 auf den Lehrstuhl Horkheimers für Philosophie und Soziologie berufen und bis 1974 (zuletzt als Direktor des Instituts für Sozialforschung) an der Frankfurter Universität tätig, leitet seit 1971 gemeinsam mit dem Physiker und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007) das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt. Er ist nach Norbert Elias (1897–1990), dem die Auszeichnung von der Stadt Frankfurt am Main 1977 zugesprochen wurde, der zweite Preisträger des im Drei-Jahres-Rhythmus vergebenen Adorno-Preises.

„Die Moderne – ein unvollendetes Projekt“ – eine Kritik der philosophischen Postmoderne mit jahrzehntelangem Nachhall

Die von Habermas anlässlich der Verleihung gehaltene Rede Die Moderne – ein unvollendetes Projekt bildet den Ausgangspunkt für seine in den kommenden Jahren verstärkte Auseinandersetzung mit neokonservativen und postmodernen philosophischen Strömungen. Die Grundgedanken der Rede fließen in zwischen März 1983 und September 1984 am Collège de France in Paris, an der Universität Frankfurt am Main und an der Cornell University in Ithaca gehaltene Vorlesungsreihe „Der philosophische Diskurs der Moderne“ ein. Habermas’ Grundanliegen bei dieser Beschäftigung ist die Abwehr gegenaufklärerischer Strömungen der Philosophie. Unbedingt an dem „unvollendeten Projekt der Moderne“ festhaltend, strebt Habermas einen Ausgleich der von ihm ausgemachten Defizite in diesem „Projekt“ durch „radikalisierte Aufklärung“ an. Die Rede wird zum bis heute meistdiskutierten „Gründungsdokument“ einer „feindselig-polemischen Abwehr postmoderner Denkansätze“ und wird den politisch-philosophischen in der Bundesrepublik und in Frankreich für Jahrzehnte bestimmen.2

Anerkennende Worte für die gescholtene Frankfurter Schule vom Oberbürgermeister

Der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Wallmann (1932–2013; CDU), der Vorsitzender des Preiskuratoriums ist und die Auszeichnung an Habermas überreicht, äußert sich im Rahmen seiner Begrüßungsansprache unerwartet eindeutig zu dem Vorwurf, die Frankfurter Schule habe dem „antiimperialistischen“ Linksterrorismus der RAF wesentliche Teile ihrer ideologischen Grundlagen geliefert.3 Habermas schildert seinen Eindruck später in einem Interview mit der linksalternativen „taz“ („die tageszeitung“), das Anfang Oktober 1980 veröffentlicht wird: „Im übrigen hat er [Wallmann] auf eine für mich überraschende Weise, die Situation genutzt, um ein Politikum zu schaffen, indem er äußerte, man solle endlich Schluß machen mit den Anschuldigungen, die ‚Frankfurter Schule‘ habe den Terrorismus hervorgebracht. Wir haben es zwar nicht nötig, von einem CDU-Oberbürgermeister die Absolution zu bekommen; aber man kann in Zukunft, wenn es mal nötig wird, an diese Äußerungen Wallmanns erinnern. Hinzufügen möchte ich, daß von Sozialdemokraten vergleichbarer Statur, als es damals nötig war, niemand etwas dazu, gesagt hat, mit einer Ausnahme, das war [Horst] Ehmke. Ich nehme das also in seinem Gebrauchswert und nicht in seinem Tauschwert, den es für Herrn Wallmann natürlich auch hat“.4
(KU)


  1. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1980, S. 30: Adorno-Preis für Habermas: Verleihung im September in der Paulskirche.
  2. Walter Reese-Schäfer, Jürgen Habermas (Serie Campus-Einführungen), 3., vollständig überarbeitete Auflage, Frankfurt am Main 2001, S. 138.
  3. Vgl. dazu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.9.1980, S. 45: Wallmann würdigt die „Frankfurter Schule“: „Kühnheit des Denkens“ und „Vorsicht des Handelns“.
  4. die Tageszeitung, 3.10.1980, S. 8 f. und 21.10.1980, S. 8 f.: Vier Jungkonservative beim Projektleiter der Moderne I. + II. Teil, hier: Ausgabe vom 21.10.1980, S. 8.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Theodor W. Adorno-Preis für Jürgen Habermas, 11. September 1980“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/1432> (Stand: 26.11.2022)
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