Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Leuschner zur Neugliederungsdebatte in Hessen, 18. Januar 1929

„Reichsland Hessen“ als „Brücke zum Einheitsstaat“

Der Innenminister im Volksstaat Hessen, Wilhelm Leuschner (1890–1944; SPD) ergreift das Wort in der 1928 neuerlich aufgelebten Diskussion um eine territoriale Neugliederung des Deutschen Reiches und veröffentlicht in der „Frankfurter Zeitung“ einen Aufsehen erregenden Vorschlag zur „Reichsreform im Rhein-Main-Gebiet“¹. Darin schlägt er vor, den Volksstaat Hessen in ein Reichsland umzuwandeln, dessen Verwaltung auf Preußen zu übertragen, und die wirtschaftlich eng mit dem Rhein-Main-Gebiet verflochtenen Südteile der preußischen Provinz Hessen-Nassau zu einem neuen Land mit den Zentren Frankfurt am Main und Darmstadt zusammenzufügen. An der Spitze des neuformierten „Reichslands Hessen“, dem nach Leuschners Vorstellung als „Brücke zum Einheitsstaat“ zentrale Bedeutung als Bindeglied zwischen den nördlichen und südlichen Reichsteilen zukommt, soll ein direkt der Reichsregierung verantwortlicher Landespräsident stehen.

Hessisch-Nassauische und preußische Gegenstimmen

Der Leuschners Vision zugrunde liegenden These eines gemeinsamen Wirtschaftsraums wird jedoch alsbald widersprochen: der Kasseler Regierungspräsident Ferdinand Friedensburg (1886–1972) entgegnet dem Vorschlag des hessisch-darmstädtischen Innenministers, „der kurhessische Norden habe mit dem Rhein-Main-Raum nichts gemein“.

Auch die von Leuschner betonte Brückenfunktion eines hessischen „Einheitsstaates“ zwischen den Reichsländern des Nordens und des Südens bleibt nicht ohne Gegenstimmen – erwartungsgemäß zuerst von preußischer Seite, die alternativ die Bildung einer preußisch-hessischen Verwaltungsgemeinschaft befürwortet, was faktisch auf eine Übernahme der hessischen Gebiete hinauslaufen würde.²

Fortsetzung einer Debatte von Anfang der 1920er Jahre

Die Debatte um eine territoriale Neugliederung des Reiches und einen Zusammenschluss der preußischen Provinz Hessen-Nassau mit dem Volksstaat Hessen (-Darmstadt) nahm ihren Anfang in den Jahren 1919/20 und fand bereits 1920 einen institutionalisierten Ausdruck in der Errichtung einer „Zentralstelle für die Gliederung des Deutschen Reiches“ (3. November 1920).³ Nachdem allerdings verschiedene Vorschläge einer Neuformierung zu Beginn der 1920er Jahre ergebnislos am Widerstand der – jeweils von Modell zu Modellen vor- oder nachteilig betroffenen – Landesregierungen scheiterten, beschränkten sich verwaltungs- und territorialreformerische Bestrebungen in den hessischen Provinzen anschließend vornehmlich auf die Erörterung (wirtschaftlich begründeter) raumordnungspolitischer Konzepte im Großraum Rhein-Main. Ausgelöst durch eine von der Reichsregierung im Januar 1928 erstmalig einberufene Länderkonferenz zur Positionsbestimmung des Reich-Länder-Verhältnisses und den Aktivitäten des ebenfalls im Januar 1928 gegründeten „Bundes zur Erneuerung des Reiches“ (Luther-Bund) erhielt die Diskussion um eine Neugliederung jedoch frische Nahrung.
(OV/KU)

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1. Vgl. Frankfurter Zeitung, Nr. 46, 18.1.1929: Die Brücke zum Einheitsstaat. Ein Vorschlag zur Reichsreform im Rhein-Main-Gebiet / von Wilhelm Leuschner. ↑
2. Vgl. Ludwig Biewer, Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Republik, S. 101 f. ↑
3. Diese zunächst vom preußischen Staatsminister a.D. Siegfried Graf von Rödern (1870–1954), und ab 1922 dann von Reichsminister Erich Koch-Weser (1875–1944) geleitete Einrichtung war aufgrund eines Beschlusses der Nationalversammlung vom 19. Juli 1919 und unter Verweis auf die Zielsetzung von Art. 18 der Weimarer Reichsverfassung (Abs. 1), wonach die territoriale Gliederung des Reiches „der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes“ dienen sollte errichtet worden. Ihr Einfluss auf etwaige Entscheidung zur tatsächlichen Neugliederung blieb indes beschränkt: die Zentralstelle konnte zwar gutachtlich Stellung beziehen, besaß jedoch keinerlei Initiativrecht. ↑