Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Johann Victor Bredt, Erinnerungen des Marburger Rechtsprofessors und Politikers, 1914-1921

Abschnitt 8: Das Marburger Studentenbataillon in Mechterstädt, 1920

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Am 19. März rief mich wieder der Landrat an: „Eine rote Armee wälzt sich plündernd durch Thüringen auf Marburg zu. Kassel ist schon in ihrer Hand. Die Verbindung mit Kassel ist unterbrochen." Ich ging sofort in die Kaserne und hörte dort, daß der Draht allerdings für Zivilpersonen gesperrt sei, daß das Militär aber telefonieren könne. Durch das Militär bekam ich auch Verbindung und rief meinen alten Waldbröler Freund Springorum, jetzt Regierungspräsident, an das Telefon. Auf meine Frage, ob er denn überhaupt noch auf freiem Fuße sei, antwortete er: „Hier ist alles ruhig und still, aber in Thüringen soll allerhand los sein." Damit war die erste Sorge behoben, aber Marburg wurde auf ganz andere Weise in die Wirren hineingezogen.

Noch am selben Tag erschien ein Aufruf des [Bezirksbefehlshabers Freiherrn Schenck], der mit den Worten begann: „Das Vaterland ist in höchster Gefahr. In Thüringen ist Aufruhr, bewaffnete Banden durchziehen raubend und plündernd das Land."1 Es wurde zur Bildung eines Studentenkorps aufgerufen, die dann auch sofort erfolgte. Es kamen zwei Bataillone zustande, die militärisch erstklassig waren. Mit einer weiteren „Volkskompanie" machte mein Freund Hermelink2 als Hauptmann weniger erfreuliche Erfahrungen. Ich begleitete das erste Bataillon zur Bahn und machte mir meine Gedanken über die Rede, mit der der Rektor Busch3 das Korps verabschiedet hatte. Es war kein Wunder, daß die jungen Leute den Kopf verloren. Ein paar Tage später traf die schlimme Nachricht ein, daß die Studenten bei Mechterstädt4 15 gefangene Arbeiter erschossen hatten. Eine lähmende Schwüle lastete auf den meisten von uns, als wir die Nachricht hörten. Der Rektor verteidigte die Studenten in jeder Weise, und aller Zorn der Deutschnationalen richtete sich nun gegen die „Volkskompanie", die aber gar nicht beteiligt gewesen war. Es war juristisch richtig, daß die Studenten später gerichtlich freigesprochen wurden, aber die Affäre von Mechterstädt war doch ein wenig erfreuliches Zwischenspiel.5


  1. Hess. Landeszeitung Nr. 67 v. 19. 3. 1920. Vgl. den ausführlichen Bericht des Zeitfreiwilligen der „Volkskompanie“ Ernst Lemmer, Manches war doch anders. Erinnerungen eines deutschen Demokraten. Frankfurt a. M. 1968 S. 66 f.
  2. Heinrich Hermelink (1877—1958), 1916—1935 ordentl. Professor in Marburg; vgl. auch die von Gustav Heinemann (Student) und Leutnant Duderstadt unterzeichnete Erklärung in der Hess. Landeszeitung Nr. 80 v. 6. 4. 1920 und den Leserbrief von Prof. Dr. Hermelink ebd. Nr. 110 v. 12. 5. 1920.
  3. Der Historiker Wilhelm Busch (1861—1929) war im akademischen Jahr 1919/20 Rektor.
  4. Zu den von Marburger Student verübten politischen Morden siehe u.a. Mechterstädt - 25. 3. 1920 : Skandal und Krise in der Frühphase der Weimarer Republik, hrsg. von Peter Krüger, Anna Nagel und Ulrich Sieg. 1997.
  5. Marburger Studentenprozeß. Bericht über die Verhandlungen vor dem Kriegsgericht nach stenographischer Aufzeichnung. Leipzig/Berlin 1921; zur Kritik vgl. W. Zorn. Die politische Entwicklung des Deutschen Studententums 1918—1931. In Darstellung und Quellen zur Geschichte der dt. Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert Bd. 5. Hrs. v. K. Stephenson, A. Scharff, W. Klötzer. Heidelberg 1965 S. 223—307. S. 257 ff.

Personen: Bredt, Johannes Victor · Löwenstein zu Löwenstein, Max von · Springorum, Regierungspräsident · Hermelink, Heinrich · Busch, Wilhelm (Marburg) · Lemmer, Ernst · Heinemann, Gustav · Duderstadt, Leutnant
Orte: Thüringen · Marburg · Kassel · Mechterstädt
Sachbegriffe: Jägerkaserne · Studentenkorps · Marburger Studentenkorps · Rektoren · Morde, politische · Hessische Landeszeitung
Empfohlene Zitierweise: „Johann Victor Bredt, Erinnerungen des Marburger Rechtsprofessors und Politikers, 1914-1921, Abschnitt 18: Das Marburger Studentenbataillon in Mechterstädt, 1920“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/62-8> (aufgerufen am 16.04.2024)