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Eröffnung des 57. Kommunallandtages des Regierungsbezirks Kassel, 26. März 1928

Im Kasseler Ständehaus tritt der 57. Kommunallandtag des Regierungsbezirkes Kassel zusammen und wird vom Landtagskommissar der preußischen Staatsregierung, dem Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau Dr. h.c. Rudolf Schwander (1868–1950) eröffnet. Er führt aus:

Sehr geehrte Herren!
Namens der Preußischen Staatsregierung begrüße ich Sie bei Ihrem Zusammentritt zur diesjährigen Versammlung des Kommunallandtages.
Die Hoffnung auf eine Besserung der wirtschaftlichen Lage im Regierungsbezirk Kassel, der ich vor einem Jahre Ausdruck gab, hat sich leider nur zu einem Teil erfüllt. In der Industrie und mit ihr im gewerblichen und kaufmännischen Leben mehrte sich infolge einer Belebung des inneren Marktes die Möglichkeit zu arbeiten, Güter zu erzeugen und umzusetzen, die Erwerbslosigkeit ging im Laufe des Jahres 1927 erfreulicherweise zurück, und die Wohnungsbautätigkeit steigerte sich recht lebhaft, so daß die Industrie- und Handelskammer Kassel mit einiger Befriedigung auf das Ergebnis des Jahres 1927 zurückblicken konnte. Leider ist freilich die Entwicklung des Wirtschaftslebens noch nicht über die kritische Zeit hinweggekommen; denn die Arbeitslosigkeit ist im Winter über das normale Maß hinausgestiegen; die Wohnungsbautätigkeit konnte zum Teil nur unter Vorwegnahme der Hauszinssteuererträge späterer Jahre finanziert werden. Die Lohntarifverträge sind noch nicht als stetig anzusehen, und der Geldmarkt ist weiter mit hohen Zinsen belastet.
Schlimmer ist es, daß das vergangene Jahr zum lebhaftesten Bedauern aller an der Wirtschaft beteiligten Kreise, Behörden und Berufsvertretungen der Landwirtschaft große Sorgen und Schwierigkeiten brachte. Zwar blieb die Provinz Hessen-Nassau von Unwetterkatastrophen verschont, aber der nasse Sommer verhinderte die rechtzeitige Bergung der Ernte, auf die man die besten Hoffnungen gesetzt hatte, und verdarb das zu spät geerntete Getreide. Mangelhafte Ernten, Absatzschwierigkeiten, Kredit- und Arbeitsnöte haben unserem Bauernstand schwere Wunden geschlagen.
In Anerkennung solcher Not und in Bewertung der schweren Lasten, die alle Stände des Landestreffen, war die Bezirksverwaltung deshalb bei der Aufstellung des Haushaltsvoranschlages für 1928 unter Verzicht auf alle nicht unbedingt notwendigen Anschaffungen auf das Ernsteste darauf bedacht, alles zu vermeiden, was eine stärkere steuerliche Belastung der Bevölkerung verursachen konnte, und es ist auch gelungen, den Haushaltsplan unter Anhaltung dieses Grundsatzes zum Ausgleich zu bringen.
Es würde daher eine falsche Sparsamkeit bedeuten, wollte man Ausgaben unterlassen, welche der Landeskultur, der Wohlfahrtspflege oder der sodringend nötigen Verbesserung und Instandsetzung der Landstraßen dienen, oder welche die Modernisierung und Erweiterung der Landeskrankenhäuser und der Heil= und Pflegeanstalten bezwecken, Aufwendungen, die zum Teil schon länger als erwünscht zurückgestellt waren. Sie finden solche Ausgaben besonders eingehend begründet unter den Ihnen vorgelegten Anträgen. Wenn sie ähnlich dem Vorgehen, das der Kommunallandtag in früheren Jahren beschloß, in den außerordentlichen Voranschlag und damit auf den Anleiheweg im größeren Umfange verwiesen sind, als man es unter günstigeren wirtschaftlichen Verhältnissen getan hätte, so ist das wohlverständlich und wird, wie ich hoffe, Ihre Billigung finden.
Die Not der Zeit, die ganz Deutschland empfindlich getroffen hat, spiegelt sich auch im Haushalt des Hessischen Bezirksverbandes wieder. Wir müssen uns ihr beugen, aber nicht, weil wir verzagen, sondern weil wir danach unser Handeln einrichten und so handeln wollen, daß wir die Not allmählich überwinden. Ich vertraue zuversichtlich darauf, daß die ruhige Überlegung und der gesunde Sinn der kurhessischen Bevölkerung vorwärtshelfen wird.
Ich möchte nicht schließen, ohne dankbar der Maßnahmen der Reichs- und der Staatsregierung zu gedenken, welche dazu bestimmt waren, die Lasten des Landes zu erleichtern und es in seiner schwierigen Lage zu unterstützen. Große Geldmittel sind in den letzten Jahren hergegeben, und mit ihnen sind Schäden wieder gutgemacht, welche durch Unwetter und ihre Begleiterscheinungen uns bereitet waren. Durch Eindeichung und Regulierung der Flüsse wird künftigen Schäden vorgebeugt. Durch Meliorierung sollen die Flächen der Hohen Rhön und die Wiesen ihrer Täler der Viehzucht nutzbar gemacht werden. Durch Umstellung veralteter Betriebsweisen und durch Anschaffung moderner Maschinen soll die in Bedrängnis geratene Kleineisenindustrie Schmalkaldens neu gestärkt, durch Bereitstellung von Arbeitsmöglichkeit mannigfaltigster Art soll der drückenden Erwerbslosigkeit vorgebeugt werden. Alle diese mit den Mitteln des Reichs, des Staates und der Selbstverwaltungsverbände geschaffenen Verdienstmöglichkeiten haben neben dem ernsten Vorwärtsstreben aller Volkskreise dazu beigetragen, daß die Volkswirtschaft trotz aller Hindernisse im Jahre 1927 einen Schritt vorwärts gekommen ist.
Ich gedenke weiterhin der Eingemeindung der industriell bedeutenden Landgemeinde Fechenheim in die Stadt Frankfurt, einer Maßnahme der Staatsregierung, welche dem Regierungsbezirk Kassel einen Gebietsverlust bereitet, welche aber durch die Vergrößerung der benachbarten Stadt Frankfurt unumgänglich notwendig wurde, so sehr auch der Bezirksverband Kassel den Verlust schmerzlich empfinden mag. Zum anderen möchte ich den beabsichtigten Anschluß des Freistaates Waldeck an Preußen und an den Regierungsbezirk Kassel erwähnen, welcher durch einen Vertrag beider Staaten festgelegt und jetzt den beiderseitigen Landtagen vorgelegt ist. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß der Vertrag allseitige Zustimmung finden wird. So begrüße ich das Zustandekommen des lange gewünschten und angestrebten Anschlusses von Waldeck, und ich gebe gern und freudig dem Wunsche Ausdruck, daß die Vereinigung für beide Landesteile, die aufeinander angewiesen sind, eine glückbringende werden möchte.
Im Auftrage der Preußischen Staatsregierung erkläre ich den 57. Kommunallandtag des Bezirksverbandes des Regierungsbezirks Kassel für eröffnet.
1

Als Alterspräsident wirkt der 68-Jährige Dr. Theodor Schroeder (Deutsche Demokratische Partei). Ihm zur Seite stehen als Schriftführer die beiden jüngsten Mitglieder des diesjährigen Kommunallandtages, der 34-jährige Verwaltungssekretär Adam Selbert (SPD) und der 30-jährige Arbeiter Ernst Lohagen (KPD). Zum Vorsitzenden des Kommunallandtages wird erneut Alexander von Keudell (Hessische Arbeitsgemeinschaft) gewählt, zu seinem Stellvertreter wiederum Dr. Georg Antoni (Zentrum).

In seiner Ansprache führt der Vorsitzende des Kommunallandtages von Keudell aus:

Meine Herren! Ich übernehme das Amt des Präsidenten, indem ich Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir auch in diesem Jahre geschenkt haben, bestens danke. Ich bitte Sie, mich wie bisher in meiner Geschäftsführung unterstützen zu wollen. Meine Herren! Der Kommunallandtag ist auch in diesem Jahre vor schwere Aufgaben gestellt. Er hat sich vor allem mit der Notlage desjenigen Betriebszweiges unseres Bezirks zu beschäftigen, dem auch heute noch die bei weitem größte Zahl der Bewohner des Bezirks angehört und von dessen Wohlergehen in ganz besonderem Maße das Gedeihen unseres Bezirkes abhängig ist. Einige Punkte unserer Vorlagen beschäftigen sich ausschließlich mit dieser Notlage der Landwirtschaft und stellen uns vor schwerwiegende Entschlüsse. Aber die Tatsache, daß ein großer Berufsstand leidet und in seiner Steuerkraft wesentlich beeinträchtigt ist, zwingt uns dazu, bei unseren gesamten Maßnahmen darauf Rücksicht zu nehmen und unsere Ausgaben so einzustellen, daß die Steuerkraft des Landes diese Ausgaben tragen kann. Gegenüber dieser Tatsache steht nun aber die Zeit mit ihren fort-schreitenden Bedürfnissen, stehen unsere Anstalten, die danach schreien, ihre Einrichtungen wieder hergestellt oder vervollkommnet zu sehen, stehen die vielen baulichen Anforderungen, die an uns gestellt werden, und stehen nicht zuletzt die enormen Anforderungen für den Ausbau unseres Straßennetzes. Hierzu kommt in diesem Jahre eine bedeutsame Vorlage, der wir uns nicht entziehen können, die Besoldungserhöhung unserer Beamten. Da gilt es in diesem Jahre, so wie es auch im vorigen Jahre der Fall war, die Diagonale zu ziehen zwischen den Erfordernissen, die wir nun mal nicht zurückstellen können, wenn wir die Aufgaben, die dem Kommunallandtag gestellt sind, nicht verkümmern lassen wollen – die Diagonale zwischen diesen Aufgaben und zwischen der beschränkten Steuerkraft des Landes. Lassen Sie mich der Hoffnung Ausdruck geben, daß all diese wichtigen Fragen, die wir zu erledigen haben, so erledigt werden möchten, wie wir sie im Landesausschuß erledigt haben, wo wir uns gesagt haben, daß wir diese Fragen nicht unter Hervorhebung unserer politischen Gegensätze, sondern lediglich nach ihrer sachlichen Seite ansehen wollen und daß wir bewilligen wollen, was notwendig ist, um Tausenden unserer hessischen Landwirte wieder festen Boden unter den Füßen zu schaffen. Möchten unsere Beschlüsse so ausfallen, daß sie zum Segen der ganzen Bevölkerung unseres Hessenlandes dienen.2

Der 57. Kommunallandtag des Regierungsbezirkes Kassel wird in insgesamt vier öffentlichen Sitzungen bis zum 31. März 1928 tagen.

Zusammensetzung des 57. Kommunallandtages des Regierungsbezirks Kassel

Sitzverteilung

SPD 15
Hessische-Nassauische Arbeitsgemeinschaft 15
Zentrum 7
DDP 3
KPD 3

SPD

Braunersreuther, Fritz (1880–1965; Gewerkschaftssekretär; Kassel; Wahlbezirk Kassel-Stadt)
Braunholz, Hans (1884–1966; Geschäftsführer; Eschwege; Wahlbezirk Eschwege)
Breyl, Hans (1878–1958; Sattler; Fechenheim; Wahlbezirk Hanau-Land)
Felgenträbe, Max (1884–1958; Sekretär; Kassel; Wahlbezirk Hofgeismar)
Holzapfel, Fritz (1883–1943); Lehrer; Hersfeld; Kreis Hersfeld
Jordan, August (1864–1938; Verwaltungsdirektor; Kassel; Wahlbezirk Kassel-Stadt)
Küch, Konrad (1881–1948; Bürgermeister; Hönebach; Wahlbezirk Rotenburg)
Pappenheim, Ludwig (1887–1934; Schriftleiter; Schmalkalden; Wahlbezirk Schmalkalden)
Persch, Ludwig (1873–1947; Buchdruckereibesitzer; Melsungen; Wahlbezirk Melsungen)
Precht, Fritz (1883–1951); Bürohilfsarbeiter; Ihringshausen; Kreis Kassel-Land
Ramm, Otto (1875–1957); Krankenkassenvollziehungsbeamter; Rinteln; Kreis Grafschaft Schaumburg
Sautter, Hans (1877–1961); Professor; Kassel; Kreis Kassel-Stadt
Selbert, Adam (1893–1965; Verwaltungssekretär; Niederzwehren; Wahlbezirk Kassel-Land)
Thöne, Georg (1867–1945; Landrat; Witzenhausen; Wahlbezirk Witzenhausen)
Völker, Georg (1887–1970); Gewerkschaftsangestellter; Kassel; Kreis Ziegenhain-Homberg

Hessische-Nassauische Arbeitsgemeinschaft

Becker, Dr. Franz (1888–1955; Oberstudiendirektor; Kassel; Wahlbezirk Kassel-Stadt)
Becker, Dr. Max (1888–1960); Rechtsanwalt; Hersfeld; Kreis Hersfeld
Böhmer, Johannes (1879–1955; Sattlermeister; Witzenhausen; Wahlbezirk Wolfhagen)
Fenner II., Johannes (1875–1957; Landwirt; Obergrenzebach; Wahlbezirk Ziegenhain-Homberg)
Hammerstein-Loxten, Adolf Freiherr von (1868–1939; Ministerialdirektor a.D. und Landwirt; Wormsthal-Altenhagen; Wahlbezirk Grafschaft Schaumburg)
Hartwig, Fritz (1884–1962); Gutsbesitzer; Thalitter; Kreis Frankenberg
Keudell, Alexander von (1861–1939; Kammerherr, Rittergutsbesitzer und Landrat a.D.; Schloss Wolfsbrunnen bei Schwebda; Wahlbezirk Eschwege)
Landgrebe, Christian (1876–1956; Landwirt und Müller; Obervellmar; Wahlbezirk Kassel-Land)
Lind, Heinrich (1878–1941); Bürgermeister; Niederissigheim; Kreis Hanau-Land
Mink, Johannes (1868–1931); Landwirt; Wolfshausen; Kreis Marburg-Kirchhain
Roever, Wilhelm (1884–1949; Landwirt; Niedermöllrich; Wahlbezirk Melsungen)
Schmidt, Hermann (1871–1929; Landgerichtsdirektor; Kassel; Wahlbezirk Kassel-Stadt)
Stockhausen, Hans Adalbert von (1874–1957); Major a.D., Landwirt; Trendelburg; Kreis Hofgeismar
Trieschmann, Kornelius (1875–1939; Landwirt; Oberellenbach; Wahlbezirk Rotenburg)
Wollenhaupt, Martin (geb. 1870); Katasterdirektor; Fritzlar; Kreis Fritzlar

Zentrum

Antoni, Dr. Georg (1862–1945; Oberbürgermeister; Fulda; Wahlbezirk Fulda-Hünfeld)
Herbert, Karl (1883–1949; Landwirt, Bürgermeister; Zirkenbach; Wahlbezirk Fulda-Hünfeld)
Linker, Wilhelm (1868–1963); Bürgermeister; Neustadt; Kreis Marburg-Kirchhain
Rang, Ludwig (1869–1957; Forstmeister; Salmünster; Wahlbezirk Schlüchtern-Gersfeld)
Scherf, Dr. Franz Joseph (1865–1929; Sanitätsrat; Bad Orb; Wahlbezirk Gelnhausen)
Sondergeld, Wigbert (1874–1937; Rektor; Hünfeld; Wahlbezirk Fulda-Hünfeld)
Wiechens, Dr. jur. Heinrich (1884–1949; Landrat; Gersfeld; Wahlbezirk Schlüchtern-Gersfeld)

Demokraten

Rade, Gottfried (1891–1987; Geschäftsführer; Kassel; Wahlbezirk Kassel-Land)
Schroeder, Dr. Theodor (1860–1951); Präsident; Kassel; Kreis Kassel-Stadt
Seibert, Wilhelm (1871–1944; Rektor; Kassel; Wahlbezirk Marburg-Kirchhain)

Kommunistische Partei

Euler, Karl (1877–1928; Schlosser; Großkrotzenburg; Wahlbezirk Hanau-Land)
Leißner, Karl (1876–1951); Brauer; Hanau; Kreis Hanau-Stadt
Lohagen, Ernst (1897–1971); Arbeiter; Kassel; Kreis Kassel-Stadt
(LV)


  1. Verhandlungen des Kommunallandtags für den Regierungsbezirk Kassel, Bd. 57 (1928), Sp. 1-4.
  2. Verhandlungen des Kommunallandtags für den Regierungsbezirk Kassel, Bd. 57 (1928), Sp. 4 f.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Eröffnung des 57. Kommunallandtages des Regierungsbezirks Kassel, 26. März 1928“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/5636> (Stand: 26.3.2023)
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