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Ring-Uraufführung der „Ermittlung“ von Peter Weiss zum Frankfurter Auschwitz-Prozess, 19. Oktober 1965

Im Rahmen einer Ring-Uraufführung, an der sich 15 Theaterbühnen in der Bundesrepublik Deutschland (West-Berlin, Essen, Köln, München und Stuttgart) und der DDR (Altenburg, Ost-Berlin, Cottbus, Dresden, Erfurt, Gera, Halle, Leipzig, Neustrelitz, Potsdam, Rostock) sowie die Royal Shakespeare Company in London beteiligen, wird das Stück „Die Ermittlung“ von Peter Weiss (1916–1982) uraufgeführt. „Die Ermittlung“ inszeniert mit den dramaturgischen Mitteln des dokumentarischen Theaters die Geschehnisse des ersten Auschwitz-Prozesses in Frankfurt am Main, bei dem zwischen dem 20. Dezember 1963 und dem 19. August 1965 (Urteilsverkündung) 22 Angehörigen der Lagermannschaft des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz vor dem Schwurgericht Frankfurt der Prozess gemacht wurde. Die Ermittlung trägt den Untertitel „Oratorium in elf Gesängen“. Die Gesänge unterteilen das Stück thematisch und führen den Zuschauer von der Ankunft der Gefangenen auf der Selektionsrampe bis hin zu den Vernichtungsöfen. Weiss, der den Text der Inszenierung bereits im Vorfeld der Uraufführung freigibt (im August 1965 als vollständiger Vorabdruck in der Theaterzeitschrift „Theater heute“ erschienen) sieht sich bereits Wochen vor der Premiere zahlreichen Angriffen ausgesetzt. Die vielfältige Kritik an dem Stück entzündet sich schwerpunktmäßig an der ästhetischen Form des Stationendramas, dem die von Bernd Naumann (1922–1971) verfassten Originalprotokolle des Frankfurter Prozesses in nur leicht abgeänderter Form zugrunde liegen. Missfallen erregt auch Weiss’ öffentliches Bekenntnis zu „Solidarität mit den sozialistischen Ländern“. Der Autor, dem die gegenwartspolitische Sprengkraft seines Werks durchaus bewusst ist erläutert in einem Interview mit der überregionalen sozialliberalen Tageszeitung „Stockholms-Tidningen“ aus Schweden: „Ein Großteil davon [der Sprengkraft] behandelt die Rolle der deutschen Großindustrie bei der Judenausrottung. Ich will den Kapitalismus brandmarken, der sich sogar für Geschäfte mit Gaskammern hergibt.“

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung äußert sich zur Wirkung der Ermittlung in Form eines essayistischen Beitrags ihres Feuilletonchefs Günther Rühle (geb. 1924) in der Ausgabe vom 21. Oktober 1965 folgendermaßen (Auszug):

Der Fall, der zur Debatte steht, erlaubt weder Scherze noch alles, was nach Wettbewerb aussieht. Das ganze Volk dies- und jenseits der Elbe war in Auschwitz verstrickt. Darum gibt es in der Geschichte unserer Dichtung keinen Stoff, der so unmittelbar jeden herausfordert, und keine Dichtung, in der der Stoff so vorrangig ist, daß er gerade dadurch zum Problem der Darbietung wird. Daß er dargeboten werden soll, steht für die Vernünftigen außer Zweifel. Das Gedächtnis ist kurz und Rekapitulation zugleich eine Vorsorge für die Zukunft. Daß der Mensch erkennen kann, wozu er fähig ist, vom Quälen ins Töten und ins Verstocktsein: das war die große Leistung des Frankfurter Prozesses, dem kein Richter einen unanfechtbaren Spruch geben konnte, weil das Maß des bürgerlichen Rechts das Unmaß dieser Taten nicht sühnen kann. Daß ein Volk inmitten seiner Prosperität an seine größte Erniedrigung erinnerte, gilt uns als ein Akt der Selbstvergewisserung. Ob er heilsam ist, muß sich erst noch entscheiden. Man kann über das Weiss'sche Stück nicht sprechen, ohne zu sagen, daß diese Zeitung auf diese Heilsamkeit vertraut. Dies war der Grund für ihre ausführliche Berichterstattung, ohne die ‚die Ermittlung‘ von Peter Weiss nicht zu denken ist.“1

Das von Weiss als Teil einer dreigliedrigen, der Struktur der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri folgenden „Welttheater“-Reihe geplante Stück, wird in der Spielzeit 1965/66 das meistgespielte Gegenwartsstück in der Bundesrepublik und erreicht zwölf Inszenierungen.
(KU)


  1. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.1965, S. 20: Der Auschwitz-Prozeß auf der Bühne: Peter Weiss’ „Ermittlung“ in 16 deutschen Theatern.
Belege
Weiterführende Informationen
Hebis-Schlagwort
Weiss, Peter / Die Ermittlung ; Auschwitz-Prozess, 1963-1965
Empfohlene Zitierweise
„Ring-Uraufführung der „Ermittlung“ von Peter Weiss zum Frankfurter Auschwitz-Prozess, 19. Oktober 1965“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2747> (Stand: 14.1.2022)
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