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Eröffnung des 68. Kommunallandtages des Regierungsbezirkes Wiesbaden, 23. März 1931

Im Kommunallandtagssitzungssaal des Landeshauses in Wiesbaden wird um 11 Uhr der 68. Kommunallandtag des Regierungsbezirks Wiesbaden durch eine Ansprache des Oberpräsidenten August Haas (1881–1945) eröffnet, die mehrfach durch Zurufe von Nationalsozialisten und Kommunisten unterbrochen wird:

Meine Damen und Herren! Als Vertreter der preußischen Staatsregierung (Rufe von den Nationalsozialisten: Die Hasenjagd beginnt! – Rufe: Die Hasenjagd ist ja schon geschlossen!) heiße ich Sie herzlich willkommen und erkläre den 68. Kommunallandtag für eröffnet.
Trotz der schweren, wirtschaftlichen Not (Rufe: Was wissen Sie denn davon?), trotz der großen Sorgen, die Sie haben werden, um den Haushaltsplan 1931 zu beschließen, beabsichtige ich, an der Spitze meiner Ausführungen einige Worte über die Befreiung der Rheinlande zu sprechen. (Rufe: Das hat gerade noch gefehlt!) Fast sind es 9 Monate her, seit jener denkwürdigen Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1930, als im Rheinlande die Bevölkerung die Befreiung vom letzten fremden Soldaten feiern konnte. (Dauernde lebhafte Zwischenrufe zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten; lebhafte Rufe bei den Sozialdemokraten – Glocke des Präsidenten – Wiederholte Rufe der Kommunisten zu den Nationalsozialisten: Sie Lügner! – Erregte Gegenrufe der Nationalsozialisten – Abg. Sprenger: Herr Präsident, ich bitte um Beachtung der Geschäftsordnung, Sie haben uns gegen solche Beleidigungen zu schützen! – Große Unruhe).
Präsident Dr. Gräf: Herr Abg. Sprenger, ich rufe Sie zur Ordnung und mache Sie auf die Folgen aufmerksam!
Oberpräsident Haas (Fortsetzung): Es kam zu wuchtigen Kundgebungen, auch hier in Wiesbaden, worin die rheinische Bevölkerung der Befreiungsfreude Ausdruck gab. Der Jubel der Bevölkerung wurde aber noch größer, als wenige Wochen später unser ehrwürdiger Reichspräsident von Hindenburg sich entschloß, die ehemalig besetzten Gebiete zu durchreisen. Leider mußte diese Reise durch das furchtbare Brückenunglück in Koblenz1 jäh unterbrochen werden. (Zurufe von den Kommunisten). Heute noch denken wir mit Wehmut an die Toten dieses furchtbaren Unglückstages. (Die Abgeordneten erheben sich zum Zeichen der Trauer von den Plätzen. – Rufe von den Kommunisten: Daran waret Ihr schuld!)
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, in diesem Zusammenhang einige Worte über denjenigen Mann auszusprechen, der vor wenigen Tagen in Berlin verstorben ist (Rufe von den Nationalsozialisten: Das ist ja die reinste Parteirede!) und noch auf der Totenbahre liegt, des Reichskanzlers a.D. Hermann Müller. (Die Abgeordneten, außer den Kommunisten und Nationalsozialisten, erheben sich von den Plätzen). Er war es, der auf der Völkerbundstagung im September 1928 Worte sprach, die in ganz Deutschland einen starken Widerhall fanden, und die zur Einleitung der Verhandlungen über die Befreiung der Rheinlande führten. Unter seiner Kanzlerschaft wurden die Befreiungsverträge abgeschlossen. Das rheinische Volk wird den Verstorbenen stets in ehrendem Andenken halten.
Meine Damen und Herren, wir haben aber auch die Pflicht, in jedem Augenblick, wo wir von der Befreiung der Rheinlande sprechen (Rufe des Abg. Lang – Gegenrufe der Nationalsozialisten – Glocke des Präsidenten).
Präsident Dr. Gräf: Herr Lang, Sie haben Ruhe zu halten! (Unruhe bei den Kommunisten. – Abg. Sprenger: Ich möchte feststellen …). Herr Abg. Sprenger, Sie haben nichts festzustellen.
Oberpräsident Haas (Fortsetzung): unserer Brüder und Schwestern an der Saar zu gedenken. Auch für sie wird der Tag bald kommen, an dem sie nach 15jährigem Zwange bekunden können, daß sie stets treu zu ihrem deutschen Vaterlande stehen.
Meine Damen und Herren! Kaum war das außenpolitische Ziel der Befreiung der Rheinlande 1930 erreicht, als die inneren Sorgen das deutsche Volk immer stärker und stärker aufwühlten. Die Zahl der Arbeitslosen, die am 1. Juli 1930 2.640.000 betrug, stieg bis zum Jahresschluß auf 4.383.000 und betrug am 1. März d. Js. 5.042.000. Leider muß man feststellen, daß noch keine Anzeichen vorhanden sind, die mit Sicherheit zu der Hoffnung berechtigen, daß die Höchstziffer dieser furchtbaren Zahl von Arbeitslosen erreicht ist. (Zwischenrufe von links und rechts.)
Ich habe mir vorgenommen, auf Ihre Zwischenrufe nicht zu antworten, und ich nehme an … (Große Unruhe – Erregte Zurufe – Glocke des Präsidenten.)
Präsident Dr. Gräf: Herr Oberpräsident, überlassen Sie es mir, die Ordnung im Hause zu wahren. Die kommen schon raus. (Erregung bei den Nationalsozialisten und Kommunisten.)
Oberpräsident Haas (Forsetzung): Die wirtschaftliche Krise, verschärft durch die schweren Kriegslasten, die Deutschland aufzubringen hat (Ruf des Abg. Lang) hat, wie in keinem Lande der Welt, dazu geführt, daß nicht nur in die kleinste Hütte die Sorgen um das tägliche Brot eingezogen sind, (Zurufe von den Nationalsozialisten) sondern weit über den Arbeiterstand hinaus in den Kreisen der freien Berufe, des Mittelstandes und der Landwirtschaft macht sich die Not immer stärker bemerkbar (Zurufe). Darüber hinaus sind in Deutschland, wie ebenfalls wohl in keinem Lande der Welt, die öffentlichen Kassen des Reichs, der Länder und der Kommunalverbände in einem fast trostlosen Zustand. Dieser Zustand ist nicht mehr durch neue Einnahmen zu beheben, weil keine Quellen vorhanden sind, aus denen neue Einnahmen fließen könnten. Die Folge ist, daß das Gleichgewicht der Haushaltspläne nur durch Senkung der Ausgaben zu erreichen ist.
[...]
Meine Damen und Herren, wollen wir über die heutige schwere Zeit hinweg zu einer inner- und außerpolitischen Erleichterung und Befreiung kommen, so ist dies nur möglich, wenn sich alle staatserhaltenden Elemente zu gemeinsamer Arbeit, diktiert von politischer Klugheit und sozialer Gerechtigkeit, zusammenfinden.
Ich hoffe, daß eine solche Zusammenarbeit auch hier in diesem Hause möglich ist, und wünsche Ihnen dazu den besten Erfolg.
2

Zum Vorsitzenden des Kommunallandtages wird in derselben Sitzung erneut Eduard Gräf (SPD) aus Frankfurt am Main gewählt, zu dessen Stellvertreter Wilhelm Guckes (Christlich-Nationale Landvolk- und Bauernpartei) aus Breithardt. August Finger (DVP) aus Frankfurt am Main-Höchst, Wilhelm Schulz (Reichspartei des Deutschen Mittelstandes) aus Frankfurt am Main, Fritz Schweig (SPD) aus Oberursel und Theodor Sznurkowksi (Zentrum) aus Frankfurt am Main komplettieren das Präsidium als Beisitzer.3

Der 68. Kommunallandtag des Regierungsbezirkes Wiesbaden tagt in insgesamt vier öffentlichen Sitzungen bis zum 28. März 1931.

Zusammensetzung des 68. Kommunallandtages des Regierungsbezirkes Wiesbaden

Sitzverteilung

Sozialdemokratische Partei Deutschlands 14
Deutsche Zentrumspartei 12
Deutsche Volkspartei 5
Kommunistische Partei 5
Christlichnationale Bauern- und Landvolkpartei 5
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (Hitlerbewegung) 4
Deutschnationale Volkspartei 3
Deutsche Demokratische Partei 3
Reichspartei des Deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei) 3

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Apel, Wilhelm (1873–1960); Landrat; Frankfurt am Main-Höchst; Wahlbezirk Main-Taunus
Asch, Bruno (1890–1940); Stadtrat; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main
Bechtel, Heinrich (1882–1962); Redakteur; Diez an der Lahn; Wahlbezirk Unterlahn
Bierbrauer, Rudolf (1884–1937; Diplom-Ingenieur; Weilburg an der Lahn; Wahlbezirk Oberlahn-Usingen)
Gräf, Eduard (1870–1936; Bürgermeister; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Heilmann, Friedrich (1886–1933; Verwaltungs-Inspektor; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Holl, Philipp (1879–1967; Stadtrat; Wiesbaden; Wahlbezirk Wiesbaden)
Hölzel, August (1897–1944; Gewerkschaftssekretär; Wiesbaden-Dotzheim; Wahlbezirk Wiesbaden)
Kirchner, Karl (1883–1945; Direktor; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Rebholz, Johann (1885–1960); Staatl. Lotterieeinnehmer; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main
Schaub, Hermann (1900–1961); Gewerkschaftssekretär; Burg; Wahlbezirk Dill
Schweig, Fritz (1874–1964; Werkzeugschleifer; Oberursel; Wahlbezirk Obertaunus)
Siebecke, Eugen (1891–1959; Direktor; Biedenkopf; Wahlbezirk Biedenkopf)
Weber, Andreas (1878–1955; Fabrikant; Frankfurt am Main-Griesheim; Wahlbezirk Frankfurt am Main)

Deutsche Zentrumspartei

Ernst, Dr. Lorenz (1890–1977; Studiendirektor; Frankfurt am Main-Höchst; Wahlbezirk Höchst am Main)
Geil, Hermann Josef (1858–1935; Maurermeister; Oberlahnstein; Wahlbezirk St. Goarshausen)
Gotthardt, Ludwig (1870–1932); Kaufmann; Limburg an der Lahn; Wahlbezirk Limburg
Husch, Jakob (1875–1950); Oberpostsekretär; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main
Kunz, Peter (1872–1959; Rektor; Hofheim im Taunus; Wahlbezirk Main-Taunus)
Pnischeck, Edmund (1883–1954; Bürgermeister; Lorch am Rhein; Wahlbezirk Rheingau)
Roth, Heinrich (1889–1955; Bürgermeister; Montabaur; Wahlbezirk Unterwesterwald)
Schmitz, Wilhelm (geb. 1869; Landgerichtsrat; Wiesbaden; Wahlbezirk Wiesbaden)
Schunck, Dr. jur. Egon (1890–1981); Landrat; Westerburg; Wahlbezirk Westerburg
Sznurkowski, Theodor (1873–1951); Kürschner; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main

Deutsche Volkspartei

Finger, August (1880–1963; Werkmeister; Frankfurt am Main-Höchst; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Krücke, Georg (1880–1961); Oberbürgermeister; Wiesbaden; Wahlbezirk Wiesbaden
Meyer, Erich (1884–1955; Pfarrer; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Passavant, Wilhelm (1886–1959; Ingenieur; Michelbach/Untertaunus; Wahlbezirk Obertaunuskreis)
Rumpf, Dr. Hermann (1875–1942); Rechtsanwalt, Notar; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main

Kommunistische Partei Deutschlands

Bach, Theodor (1879–1945; Händler; Wiesbaden-Dotzheim; Wahlbezirk Wiesbaden)
Ballmann, Adolf (1883–1945; Schreiner; Wiesbaden; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Dienstbach, Karl (1900–1977; Fabrikarbeiter; Frankfurt am Main-Höchst; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Dommermuth, Peter Ewald (1887–1945; Arbeiter; Ransbach; Wahlbezirk Unterwesterwaldkreis)
Lang, Konrad (1885–1963; Monteur; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main)

Christlich-Nationale Bauern- und Landvolkpartei

Decker, Heinrich (1867–1956; Landwirt; Dörnberg; Wahlbezirk Unterlahn)
Fink, Albert Hermann (geb. 1881); Bürgermeister und Landwirt; Seelbach; Wahlbezirk Oberlahn-Usingen
Guckes, Wilhelm (1877–1942); Landwirt, Bürgermeister a.D.; Breithardt; Wahlbezirk Untertaunus
Schmidt II., Ludwig (1868–1945; Landwirt; Breidenbach; Wahlbezirk Biedenkopf)
Schupp, Philipp Jakob August (1881–1955; Landwirt; Bornich; Wahlbezirk St. Goarshausen)

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (Hitlerbewegung)

Habicht, Theodor (1898–1944; Schriftleiter; Wiesbaden; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Lommel, Hans (1875–1939; Praktischer Arzt; Rod an der Weil; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Piékarski, Felix (1890–1965; Justizobersekretär; Wiesbaden; Wahlbezirk Wiesbaden)
Sprenger, Jakob (1884–1945; Postinspektor; Frankfurt am Main-Niederrad; Wahlbezirk St. Goarshausen)

Deutschnationale Volkspartei

Heldmann, Dr. Heinrich (1871–1945; Senatspräsident; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Kupfrian, Fritz (1879–1953; Bürgermeister; Dillenburg; Wahlbezirk Dillkreis)
Stein, Dr. Wilhelm Freiherr von (1869–1954; Amtsgerichtsrat; Wiesbaden; Wahlbezirk Wiesbaden)

Deutsche Demokratische Partei

Born, Frieda (1883–1953; Fürsorgerin; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Fechner, Walter (1878–1962); Kaufmann; Wiesbaden; Wahlbezirk Wiesbaden
Walter, Theodor (1869–1933; Berufsschuldirektor; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main)

Reichspartei des Deutschen Mittelstandes (Wirtschaftspartei)

Hartmann, Heinrich (1862–1938; Bauunternehmer; Wiesbaden; Wahlbezirk Wiesbaden)
Schweitzer, Johann (1877–1957; Kolonialwarenhändler; Frankfurt am Main-Oberrad; Wahlbezirk Frankfurt am Main)
Schulz, Dr. jur. Wilhelm (geb. 1890); Syndikus; Frankfurt am Main; Wahlbezirk Frankfurt am Main
(LV)


  1. Beim Einsturz einer Behelfsbrücke über den Sicherheitshafen in Koblenz-Lützel waren am 22. Juli 1930 38 Menschen ums Leben gekommen. Vgl. Wikipedia: Brückenkatastrophe in Koblenz (eingesehen am 7.6.2019).
  2. Verhandlungen des 68. Kommunallandtags des Regierungsbezirks Wiesbaden vom 23. bis 28. März 1931, Wiesbaden [1931], S. 1 f.
  3. Ebd., S. 2 f.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Eröffnung des 68. Kommunallandtages des Regierungsbezirkes Wiesbaden, 23. März 1931“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/5600> (Stand: 23.3.2023)
Ereignisse im Februar 1931 | März 1931 | April 1931
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