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Umstrittene Rede Martin Walsers bei der Friedenspreisverleihung in Frankfurt, 11. Oktober 1998

Der deutsche Schriftsteller Martin Walser (geb. 1927) erhält in der Paulskirche in Frankfurt am Main den Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Der Börsenverein „ehrt damit den deutschen Schriftsteller, dessen literarisches Werk die deutschen Wirklichkeiten der zweiten Jahrhunderthälfte beschreibend, kommentierend und eingreifend begleitet hat. Martin Walsers erzählerische und essayistische Kunst, die der ‚Gegenwehr gegen den Mangel‘ entspringt, hat den Deutschen das eigene Land und der Welt Deutschland erklärt und wieder nahegebracht. Mit seiner Kritik an der deutschen Teilung, die er schon früh als überwindbaren Zwischenzustand bezeichnete, hat Martin Walser eine Forderung vorweggenommen, deren Einlösung später von den Menschen in der DDR vollzogen wurde.“1 Walsers Dankesrede, über die er selbst in einem am 12. Oktober in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Artikel reflektiert,2 sorgt im Nachgang allerdings für erhebliche Irritationen. Der Autor, der in seiner Ansprache sich dagegen wendet, die „unvergängliche“ Schande der deutschen Auschwitz-Vergangenheit „zu gegenwärtigen Zwecken“ im Sinne eines „jederzeit einsetzbaren Einschüchterungsmittels“ oder der sprichwörtlichen „Moralkeule“ zu „instrumentalisieren“, wird vom amtierenden Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland Ignatz Bubis (1927–1999) in scharfer Weise angegriffen. Bubis, selbst bei der Verleihung des Friedenspreises anwesend, verzichtet gemeinsam mit seiner Frau Ida (und dem Theologen und DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer (geb. 1944)) darauf, sich wie alle anderen Zuhörer nach dem Ende von Walsers Rede zu standing ovations zu erheben. Stattdessen bezeichnet er Walser wenig später als „geistigen Brandstifter“, der für eine Kultur des „Wegschauens und Wegdenkens“ plädiere und damit die Tendenz eines gegenwärtigen „unterschwelligen Antisemitismus“ in der Gesellschaft stärke. In der Folgezeit entsteht aus den Äußerungen Walsers und Bubis ein heftiger Disput und eine kontrovers geführte öffentliche Debatte.

Auf der Frankfurter Buchmesse, in deren Rahmen die Verleihung stattfindet, äußerte sich Walser bereits kritisch gegenüber dem geplanten Holocaust-Denkmal in Berlin. Das Mahnmal werde zu „leeren Ritualen“ führen und Schändungen provozieren. Es sei nicht geeignet, den Passanten zu vermitteln, was dargestellt werden solle.

Nachfolgend wiedergegeben ist die Passage aus Walsers Friedenspreisrede, an der sich die Debatte entzündet:

Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt.
Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. […]
Im Jahr 1977 habe ich nicht weit von hier, in Bergen-Enkheim, eine Rede halten müssen und habe die Gelegenheit damals dazu benutzt, folgendes Geständnis zu machen: „Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte – so schlimm sie zuletzt verlief – in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen.“ Und: „Wir dürften“, sage ich vor Kühnheit zitternd, „die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.“
Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets.
Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?“.3

Im Vorfeld hatte sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) im „Literarischen Quartett“ des ZDF bei der Vorstellung von Walsers neuem Buch „Ein springender Brunnen“ daran gestoßen, dass darin das Thema Auschwitz völlig ausgespart worden sei. Walser bezeichnete Reich-Ranicki daraufhin als ein „fast bewußtloses Opfer seines eigenen Zeitgeistes“. Die in dem Buch gewählte Perspektive eines Kindes würde mit dem Hinweis auf Auschwitz zerstört. Walser bekräftigt, dass „Zeitgeist-Anforderungen“ wie die Forderung nach dem Hinweis auf das bekannteste NS-Vernichtungslager seien „völlig rücksichtslos“ gegenüber der Ästhetik. „Wenn das Wort Auschwitz darin vorkäme, nur um mich Reich-Ranicki-mäßig zu verhalten, könnte ich den Roman wegwerfen“, so Walser.4
(KU)


  1. Begründung der Jury zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998, zitiert nach: Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V.: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Der Preisträger 1998: Martin Walser (eingesehen am 11.10.2020).
  2. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.1998, S. 15: Die Banalität des Guten: Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels / Von Martin Walser.
  3. Auszug aus der Friedenspreisrede Martin Walsers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, zitiert nach: Börsenverein des Deutschen Buchhandels e. V.: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Der Preisträger 1998: Martin Walser (eingesehen am 11.10.2020).
  4. Vgl. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.10.1998, S. 1: Walser gegen Holocaust-Denkmal: Provokation durch „leeres Ritual“: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird heute in der Frankfurter Paulskirche verliehen.
Belege
Weiterführende Informationen
  • Martin Walser, Ansprachen aus Anlaß der Verleihung [des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1998], Frankfurt am Main 1998
  • HeBIS Frank Schirrmacher (Hrsg.), Die Walser-Bubis-Debatte: eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1999.
  • HeBIS Gerd Wiegel (Hrsg.), Geistige Brandstiftung? Die Walser-Bubis-Debatte (Neue kleine Bibliothek 59), Köln 1999.
  • Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.10.1998, S. 4: „Von Brandstiftung kann keine Rede sein“. Geschichte als Falle: Bubis, Walser und die jüdische Welt / Von Michael Wolffsohn
  • HeBIS Martin Dietzsch (Hrsg.), Endlich ein normales Volk? Vom rechten Verständnis der Friedenspreis-Rede Martin Walsers. Eine Dokumentation, Duisburg 1999.
Hebis-Schlagwort
Walser, Martin ; Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ; Vergangenheitsbewältigung ; Kontroverse ; Bubis, Ignatz ; Nationalsozialismus
Empfohlene Zitierweise
„Umstrittene Rede Martin Walsers bei der Friedenspreisverleihung in Frankfurt, 11. Oktober 1998“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2723> (Stand: 11.10.2021)
Ereignisse im September 1998 | Oktober 1998 | November 1998
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