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Georg-Büchner-Preis an Günter Grass, 9. Oktober 1965

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht im Rahmen ihrer jährlichen Herbsttagung in Darmstadt dem deutschen Schriftsteller Günter Grass (1927–2015) den Georg-Büchner-Preis. Die mit 10.000 DM dotierte Auszeichnung wird von der Akademie an Künstler vergeben, „die durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben“ (Präambel). Der Büchner-Preis ist der bedeutendste deutsche Literaturpreis. Die Laudatio für Grass hält der Schriftsteller und Ehrenpräsident des P.E.N.-Zentrums Deutschland Kasimir Edschmid (1890–1966), der 1927 selbst den damals noch vom Volksstaat Hessen vergebenen Georg-Büchner-Preis empfing.

Die anlässlich der Verleihung von Grass gehaltene Rede entwickelt sich zum Politikum, als der Schriftsteller die im September für die SPD (für die er im Wahlkampf mit einer Kampagne in Aufsehen erregender Weise Wort ergriff) verloren gegangene Bundestagswahl und insbesondere die Person des bereits zum zweiten Mal als Spitzenkandidat der Sozialdemokraten angetretenen regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt (1913–1992) thematisiert und Wählerentscheidung als Votum gegen den „Emigranten“ Brandt1 deutet. Grass im Wortlaut: „Zwar sprach man während Wochen über Volksrente, Vermögensbildung, Gesundheitsschutz und bis nahe dem Überdruß zum Thema Sicherheit; aber in der Tat [...]ging es während des Wahlkampfes um die Beantwortung einer leitmotivischen Frage: Darf in Deutschland ein Emigrant Bundeskanzler werden? Und am 19. September hat die Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik neben das unbewußte Nein zur Wiedervereinigung und den damit verbundenen Opfern ein bewußtes Nein gesetzt. Die Entscheidung gegen Willy Brandt, das heißt gegen den Emigranten Willy Brandt und also gegen die gesamte deutsche Emigration, schlägt zu Buche als ein Ja zum Opportunismus, als ein Ja zum unreflektierten Materialismus, als Bestätigung eines Ludwig Erhard [1897–1977]: Unter der Schirmherrschaft sich christlich nennender Parteien darf der Tanz ums goldene Kalb vier Jahre lang fortgesetzt werden.“2

Grass’ politische Rede, in der er unzweideutig das Heft für die Sozialdemokratie ergreift, den Wahlverlierer Brandt als Opfer von Diffamierung und Lüge bezeichnet (und ansatzweise Spitzenpolitiker der amtierenden Regierungspartei als reaktionäre Förderer von Rehabilitanden aus der NS-Zeit verurteilt), wird vom Darmstädter Kreisverband der Union mit Entrüstung aufgenommen. In einer am nächsten Tag veröffentlichten Stellungnahme bezeichnet die CDU die Ansprache als eine „politische Hetzrede übelster Art“, die „eine außerordentliche Geschmacklosigkeit und Ungezogenheit darstellt, für die es in der jüngsten Geschichte Darmstadts kein Beispiel gibt“.3 Dem sei bundesweit entgegen zu treten: „Wenn Herr Grass glaubt eine große demokratische Partei und ihre Repräsentanten als Inkarnation des Niederträchtigen und Gemeinen demonstrieren zu dürfen, so muß man entschlossen gegen solche Infamien aufstehen und auf Wahrung der elementarsten demokratischen Sitten dringen.“4

Bereits vor der Verleihung war die Nominierung von Grass aus den Reihen der CDU heftig kritisiert worden. So verkündete der Kreisverband der Jungen Union in Darmstadt, dass der Schriftsteller „nicht über die Qualifikation für eine solche Auszeichnung“ verfüge; der Erfolg seiner Bücher sei vielmehr „vorwiegend auf seine blasphemischen und pornographischen Entgleisungen“ zurückzuführen.5
(KU)


  1. Willy Brandt emigrierte nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zunächst nach Norwegen. 1936 kehrte er unter falschem Namen kurzzeitig nach Deutschland zurück, arbeitete 1937 als Kriegsberichterstatter in Spanien und wurde 1938 vom NS-Regime offiziell ausgebürgert. Nach dem deutschen Einmarsch in Norwegen kurzzeitig in Gefangenschaft geraten, konnte er 1940 nach Schweden fliehen. 1945 kehrte Brandt als Korrespondent für mehrere skandinavische Zeitungen nach Deutschland zurück.
  2. Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.1965, S. 16: Grass oder die Wirklichkeit: Eine politische Nachrede zur Wahl / Anläßlich des Büchnerpreises / von Günther Rühle.
  3. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.10.1965, S. 20.
  4. Ebd.
  5. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.1965, S. 24.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Georg-Büchner-Preis an Günter Grass, 9. Oktober 1965“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/1211> (Stand: 26.11.2022)
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