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Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Treffen evangelischer Kirchenführer und Bildung der EKD in Treysa, 27. - 31. August 1945

In Treysa wird eine Konferenz evangelischer Kirchenführer eröffnet, bei der der Zusammenschluss von zwölf evangelischen Landeskirchen zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) erreicht und ein Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland gebildet wird. Dessen Vorsitz übernimmt der württembergische Landesbischof Theophil Wurm (1868–1953). Als Stellvertreter wird mit dem Pastoren Martin Niemöller (1892–1984) ein Vorkämpfer der oppositionellen „Bekennenden Kirche“ im Nationalsozialismus berufen, der 1947 die Präsidentschaft der neu gegründeten Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau antritt.
In einer Rede nimmt Wurm, der zu den Mitunterzeichnern des sogenannten Stuttgarter Schuldbekenntnisses gehört, Stellung zu grundsätzlichen und aktuellen politischen Fragen. Er führt dabei aus:
Daß das deutsche Volk heute so dasteht in der Welt, mit solcher Schmach bedeckt – das ist uns ein tiefer Schmerz, darüber beugen wir uns mit unserem Volk vor dem heiligen Gott. Eben deswegen fühlen wir uns aber auch solidarisch mit seiner Not und bieten alles auf, um diese Not zu lindern. Wir bitten die Besatzungsmächte, sich über die psychologische Wirkung derjenigen Strafmaßnahmen. Rechenschaft abzulegen, die weit über den Kreis der Verantwortlichen und Schuldigen hinaus die weitesten Volkskreise aufs empfindlichste treffen in Wohnung, Kleidung, Nahrung, in der Pflege der Hausgemeinschaft. Wir bitten auch, die Maßnahmen gegen die Schuldigen, sofern man alle Mitglieder der NSDAP als mitverantwortlich ansehen will, daraufhin zu prüfen, ob sie wirklich zur Ausrottung der Denkweise dienen, die man vernichten will, und ob sie nicht den wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg hemmen. Ich habe schon in meinem ersten öffentlichen Vortrag in Tübingen Ende Mai geäußert: Pg. ist nicht gleich Pg., und selbst SS ist nicht gleich SS, und freue mich, nun wörtlich dieselbe Wendung in einem Hirtenbrief des Kardinals Faulhaber zu finden. Ein besonderes Wort aber muß dem Osten gewidmet sein. Ist es wirklich als vollzogene Tatsache zu betrachten, daß im Zeichen der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und des dauernden Völkerfriedens alles seit Jahrhunderten von Deutschen besiedelte und kulturell entwickelte Land dem Slawentum ausgeliefert und damit zugleich dem Protestantismus entzogen wird? Erinnern wir uns eines geschichtlichen Vorgangs vor 130 Jahren. Napoleon hatte zwei Jahrzehnte hindurch Europa beunruhigt, beherrscht, bekämpft, ausgesogen, bis schließlich die vereinten Nationen, Deutsche, Russen, Engländer, ihn niederzwangen. Die beiden Friedensschlüsse von 1814 und 1815 bzw. der Wiener Kongreß ließen das eigentliche Frankreich völlig unberührt. Der Ruf der deutschen Patrioten nach dem anderthalb Jahrhunderte vorher französisch gewordenen Elsaß verhallte ungehört. Jetzt sollen Gebiete, die nie dem polnischen oder russischen Staat gehört haben, von Deutschland abgetrennt und die Bewohner entweder in das zusammengeschrumpfte Deutschland oder in den Osten verpflanzt werden. Wie oft haben in den Jahren zwischen 1919 und 1933 englische, amerikanische und neutrale Stimmen sich erhoben, die auf die Gefährlichkeit der Regelung der Danziger Frage und des Korridors hinwiesen, und wie haben diese warnenden Stimmen recht behalten! Kann man denn in dieser Welt das Unrecht nur dadurch bekämpfen, daß man es überbietet und dadurch verewigt? Dürfen Völker, die sich im Gegensatz zum Nationalsozialismus zu den Grundsätzen des Christentums bekennen, den christlichen Grundsatz, statt Vergeltung Vergebung, so bewußt verleugnen? Und ist nun die Macht, die im Osten entscheidet und in deren Hände das Schicksal von Millionen Deutscher gelegt wird, eine Macht, die den Grundsätzen einer christlichen Demokratie besser entspricht als die, die mit ihrer Hilfe gestürzt worden ist? Wenn ich eine Bitte an unsere ökumenischen Freunde habe, so ist es die, besonders den angelsächsischen Kirchen deutlich zu machen, daß eine Verantwortung für die Verhältnisse im Osten ihnen und ihren Staaten nicht abgenommen werden kann, auch wenn die politischen Abmachungen eine solche nicht enthalten. Uns aber muß das Gedenken an unsere Glaubensgenossen in den Ländern Östlich der Oder Tag und Nacht begleiten.
Kurz zuvor war die katholische Deutsche Bischofskonferenz erstmals nach dem Krieg zusammengetreten und hatte in Fulda ein Schuldbekenntnis abgelegt, in dem sie sich zur Mitverantwortung auch vieler katholischer Christen für die Verbrechen des Nationalsozialismus (Kroll) bekennt.
(OV)

Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Treffen evangelischer Kirchenführer und Bildung der EKD in Treysa, 27. - 31. August 1945“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/3499> (Stand: 25.7.2018)
Ereignisse im Juli 1945 | August 1945 | September 1945
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