Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 36: V. Rückzug

[95-97] In der Nacht vom 10./11. Juli.
Ich nehme dreimal einen Anlauf, um aus unserer Deckung wegzukommen. Aber dreimal treiben mich fauchende, hohlklirrende Schrapnellsalven wieder zurück, die ihre Eisenkugelsaat über den Eingang spritzen. Zum vierten Mal endlich gelingt es.
[S. 96] Wir hasten zurück. Der Kehlkopf schmerzt. Hacken und Oesen drücken. Ich habe vergessen, den Kragen zu öffnen. Brotbeutel und Gasmaske ziehen schwer nach hinten. Aber weiter; keine Sekunde darf deshalb verloren gehen.
Wir klettern über einen Trägertrupp hinweg, der sich im Feuer platt auf die Erde geworfen hat — Mann hinter Mann; unser alter Unteroffizier hätte gesagt: die liegen da wie hingerotzt.
Wir kommen nach dem Sanitätsstollen, wo wir etwas verpusten wollen. Kehlkopf und Gurgel sind wundgedrückt und -gekeucht. Ich spucke Blut.
Nach zwei Stunden ist es etwas ruhiger geworden. Wir brechen wieder auf. Der neue Doktor kommt mit; er will zum großen Verbandplatz am Regimentsgefechtsstand weiter hinten.
Die Nacht ist heller geworden. Der Mond ist hinter jagenden Wolken aufgegangen.
Wir überschreiten die Straße Nauroy-Moronvilliers, eilen durch den zerhackten Wald nach dem Regimentsgefechtsstand auf der Höhe.
Der Doktor ist einige Schritt zurückgeblieben. Ich warte, um mich schnell von ihm zu verabschieden.
Weiter. An der Straßengabelung ist ein großes Munitionslastauto von einer Granate getroffen worden. Tote, Verstümmelte, wimmernde Verwundete liegen umher. Die Sanitäter sind schon benachrichtigt. Hier gibt es nichts mehr zu helfen.
Weiter. Im Straßengraben liegen die Kanoniere einer Langrohr-Batterie. Sie sind geflüchtet. Seit gestern Abend liegt ihre Batterie unter schwerem Feuer. Ein Volltreffer nach dem andern.
[S. 97] Am Wegrand streckt ein aus dem Geschirr geschnittener Schimmel alle Viere in die Luft. Die armen Pferde — fast sind sie ja noch mehr gequält als die Menschen. Ob sie das fühlen?
Vorbei am Pionierpark, dem gefährlichsten Punkt. Kaum sage ich aufatmend: „Ich glaube, jetzt haben wir's geschafft", als keine fünfzehn Meter vor uns auf der Mitte der Straße ein schweres Flachbahngeschoß platzt und uns mit Dreck und Steinen überschüttet. „Auf — marsch, marsch!" schreie ich, laufe in die Staubwolke hinein und noch fünfzig Meter weiter, um durch diese Zone hindurchzukommen.
Als ich die Granate hatte heranheulen hören, dachte ich erst: Schöne Bescherung, mitten in die Kolonne! Aber nicht ein Mann wurde getroffen.
Aus meinem Rockärmel lief warmes Blut. Aber ich hatte mir beim blitzschnellen Hinschmeißen nur das Ellenbogengelenk des rechten Armes bis auf die Knochen aufgefallen.
Beim Morgengrauen kommen wir in unserem Waldlager an.


Personen: Egly, Wilhelm
Orte: Friedberg
Sachbegriffe: Blut · Ellenbogengelenk · Granate · Kehlkopf · Knochen · Mond · Pferde · Qualen · Sturz · Tagebücher · Verstümmelung · Verwundung
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 10: V. Rückzug“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-36> (aufgerufen am 18.04.2024)