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Erster Parlamentarischer Abend mit dem Großherzog in Darmstadt, 7. März 1901

Der Präsident der Zweiten Kammer des Landtags des Großherzogtums Hessen (Landstände des Großherzogtums Hessen), Wilhelm Haas (1839–1913; Nationalliberale Partei), lädt zu einem größeren Parlamentarischen Abend in das Hotel „Zur Traube“ in Darmstadt. Als bekannt wird, dass auch der Großherzog eingeladen ist und sein Erscheinen zugesagt hat, interessieren sich die Journalisten vor allem für die Meinung der sozialdemokratischen Fraktion. Der spätere Staatspräsident Carl Ulrich (1853–1933; SPD) erinnert sich:

Unumwunden erklärte unsere Fraction, da es sich um einen parlamentarischen Abend handele und um keine Huldigungsfeier für den Monarchen, so würde sie der Einladung des Präsidenten folgen. Und richtig, die Fraction war zur Stelle. Das Arrangement des Abends war durchaus parlamentarisch, d. h. jeder Tisch war mit Abgeordneten jeder Partei und jeder Richtung mit Regierungsvertretern in bunter Verschiedenheit besetzt. Es entwickelte sich ein durchaus ungezwungenes Leben, sodaß die Stunden äußerst schnell vergingen. Der Großherzog saß in der Mitte des Präsidialtisches; ihm gegenüber saß der Präsident Haas, zur Rechten saß der zweite Präsident Reinhart und zur Linken der dritte Präsident Schmitt.
Nach einiger Zeit kam der Präsident Haas mit dem Großherzog auch an den Tisch, an dem ich mit den übrigen Abgeordneten und Regierungsvertretern saß. Es entspann sich nach der Vorstellung eine lebhafte Unterhaltung über politische und wirtschaftliche Fragen, in der ich die objektive Auffassung des Großherzogs recht beachtlich fand. Aller Augen waren auf die Gruppe und Vorgänge an unserem Tisch gerichtet, als wenn man was Besonderes erwarte — es passierte aber gar nichts besonderes. Wir empfahlen uns [ . ? . ].
Fröhlich wurde bis nach Mitternacht pokuliert. Von einer Sensation war keine Rede. Doch gleich am anderen Tag gab es ein vernehmliches Rauschen im Blätterwald. Die „staatserhaltenden“ Organe waren außer sich! Sie verlangten z. T., daß der Großherzog von Berlin aus auf das Unzulässige der Unterhaltung hingewiesen würde, damit es nicht wieder vorkäme, ja die Hamburger Nachrichten, das frühere Leiborgan Bismarck's ließ sogar durchblicken, daß man nötigenfalls dem Großherzog unzweideutig klar machen müßte, daß etwas derartiges unverantwortlich sei.
Ich wurde von meinen eigenen Parteigenossen teilweise recht lebhaft angegriffen und als „Hofgänger“ bezeichnet. Um das zu können, wurde behauptet, der Großherzog habe zu diesem parlamentarischen Abend eingeladen und ich sei ins Schloß gegangen. Ein satyrisches Wochenblatt brachte ein Bild, in dem ich zunächst als Handwerksbursche mit dem Felleisen auf dem Rücken fechtend und vom Polizeidiener verfolgt, dargestellt und zum Schluß beim Eingang ins Schloß von der präsentierenden Schloßwache begrüßt wurde. Am aufgeregtesten waren aber meine Berliner Parteigenossen. Sie behandelten mich als Renegaten, ja in einer dortigen Versammlung verlangte ein Redner, daß ich aus der Partei ausgeschlossen werden sollte.
Ich ließ den Sturm ruhig über mich hintoben und amüsierte mich, als beim zweiten parlamentarischen Abend, der am 6. März 1902 im Ständehaus stattfand, der Großherzog bei unserer Zusammenkunft lustig meinte: „Na, Herr Abgeordneter, unsere vorige Unterhaltung wäre Ihnen ja beinah übel bekommen.“ Worauf ich ebenso lustig entgegnete: „Das war nicht gefährlich — aber Ihnen wollte man ja von gewisser Seite ein Regiment Soldaten nach Darmstadt schicken, damit ‚sowas‘ nicht mehr vorkomme.“
Wir lachten, und die umstehenden Abgeordneten und Regierungsvertreter lachten mit.

(OV)

Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Erster Parlamentarischer Abend mit dem Großherzog in Darmstadt, 7. März 1901“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2513> (Stand: 7.3.2022)
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