Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Einrichtung eines Kriegsgefangenenlagers für Ukrainer in Wetzlar, Herbst 1915

In Wetzlar wird im Herbst 1915 ein besonderes Kriegsgefangenenlager für Ukrainer eingerichtet. Die Gründung eines „Ukrainerlagers“ ist der Initiative des 1914 in Österreich gegründeten „Bundes zur Befreiung der Ukraine“ (BBU) zuzuschreiben, der eine „Nationalisierung“ der Ukrainer und eine Loslösung von Russland anstrebt. Für die Kriegsgefangenen werden im Lager eine Vortragshalle, Schulräume und Handwerksstätten eingerichtet. Dort finden Unterricht zur Alphabethisierung, Geschichtsunterricht und praktische handwerkliche Ausbildung statt; wer den Unterricht besucht, wird von der regulären Lagerarbeit freigestellt. Auch entstehen Kulturvereine, wie der Gesangs- und Theaterverein „Lyssenko“, lagerinterne Publikationen sollen Aufklärungsarbeit im Sinne der Bewusstmachung ukrainischer Identität leisten.1 Der Bund zur Befreiung der Ukraine ist in seiner Bildungsinitiative zwar an deutsche Kriegsgesetze gebunden, erhält jedoch in der praktischen Durchsetzung weitestgehend freie Hand. Durch sein Wirken entsteht im Wetzlaer Ukrainerlager ein reges kulturelles Leben, es gründen sich viele Organisationen und Vereine religiöser, politischer und kultureller Art.2 Die hessische Tagespresse berichtet nicht von den lagerinternen Aktivitäten, hegt aber großes Interesse am Gesangsverein „Lyssenko“, der auch außerhalb des Gefangenenlagers auftritt und in der Bevölkerung Wetzlars und Umgebung auf Begeisterung stößt.3

Das Leben der ukrainischen Kriegsgefangenen in Wetzlar gestaltet sich insgesamt wesentlich angenehmer als das der Kriegsgefangenen anderer Nationalitäten.4 Der „Brotfrieden“, Separatfrieden zwischen der seit Januar 1918 als unabhängig erklärten Ukraine und den Mittelmächten, der noch vor dem Separatfrieden der Mittelmächte mit dem sowjetischen Russland5 geschlossen wird, trägt zum positiven Umgang mit den ukrainischen Kriegsgefangenen in Wetzlar bei. Einen Tag nach Abschluss des „Brotfriedens“ gibt „Lyssenko“ ein Konzert, um den Friedensschluss zu feiern, der Wetzlaer Anzeiger berichtet begeistert über das fröhliche Fest. Die ersten Ukrainer können daraufhin schon im Februar 1918 das Gefangenenlager verlassen.6 Im Vergleich dazu gestaltet sich die Situation der zahlreichen russischen Kriegsgefangenen in Deutschland sehr viel schlechter. Obwohl nach Friedensschluss zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten eine zügige Rückführung der Kriegsgefangenen beschlossen wurde, können diese frühestens im Oktober 1918 die Lager verlassen, denn als billige Arbeitskräfte wird nur ungern auf sie verzichtet.7.
(NT)


  1. Jung, Irene/Wolfgang Wiedl, Zwischen Propaganda und Alltagsnot. Wetzlar und der Erste Weltkrieg 1914-1918, Neustadt an der Aisch 2016, S. 262-265.
  2. Jung, Irene/Wolfgang Wiedl, Zwischen Propaganda und Alltagsnot. Wetzlar und der Erste Weltkrieg 1914-1918, Neustadt an der Aisch 2016, S. 264-265.
  3. Gießener Anzeiger, 6.2.1918, S. 2: Aus Stadt und Land, Ukrainer-Konzert.
  4. Jung, Irene/Wolfgang Wiedl, Zwischen Propaganda und Alltagsnot. Wetzlar und der Erste Weltkrieg 1914-1918, Neustadt an der Aisch 2016, S. 267.
  5. Auch als „Friedensvertrag von Brest-Litowsk“ bezeichnet
  6. Jung, Irene/Wolfgang Wiedl, Zwischen Propaganda und Alltagsnot. Wetzlar und der Erste Weltkrieg 1914-1918, Neustadt an der Aisch 2016, S. 278-280.
  7. Brake, Ludwig/ Eckhard Ehlers/ Utz Thimm: Gefangen im Krieg. Gießen 1914-1919, Marburg 2014, S. 571-572.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Einrichtung eines Kriegsgefangenenlagers für Ukrainer in Wetzlar, Herbst 1915“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/5475> (Stand: 3.3.2022)
Ereignisse im August 1915 | September 1915 | Oktober 1915
Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30