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Der SS-Kriegsverbrecher und „Schlächter von Lyon“ Klaus Barbie wird in Marburg verhaftet, 28. August 1946

Der gesuchte Kriegsverbrecher und ehemalige SS-Hauptsturmführer Nikolaus „Klaus“ Barbie (1913–1991) wird am 28. (oder 30.) August in Marburg von einem Angehörigen des amerikanischen Militärs auf offener Straße verhaftet. Ihm gelingt während der Fahrt zu seiner Vernehmung durch einen beherzten Sprung aus dem offenen Jeep die Flucht. Klaus Barbie, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs zeitweise für den US-Geheimdienst CIC, den Bundesnachrichtendienst (BND) und als Ausbilder und Berater der Sicherheitskräfte des bolivianischen Diktators Hugo Banzer Suárez (1926–2002) arbeitet, zählt zu den meistgesuchten deutschen Kriegsverbrechern. Er trat am 26. September 1935 der SS bei (Mitglieds-Nr. 272.284) betätigte sich ab dem 29. September 1935 als Mitarbeiter im Hauptamt des Sicherheitsdienstes des Reichsführers-SS (SD-Hauptamt).
Barbie lässt sich vermutlich Anfang 1946 in Marburg nieder und lebt bis zu seiner gescheiterten Verhaftung unter dem Tarnnamen Klaus Becker in einem Eckhaus in der Marburger Innenstadt (Barfüßerstraße 35). Der Hausbesitzer ist über die wahre Identität seines Mieters gut informiert: Als überzeugter Nationalsozialist, der sich bereits 1930 der NSDAP und der SA angeschlossen hat, bot er dem rechtzeitig vor Kriegsende untergetauchten und nach eigenem Bekunden zum Studium in die Universitätsstadt gezogenen Barbie wohlwollend Quartier und Unterschlupf. Der 1947 in Frankreich zum Tode verurteilte Barbie knüpft in Nordhessen ein konspiratives Netz ehemaliger SS-Angehöriger, deren logenartige Organisation im Untergrund daran arbeitet, Kameraden im öffentlichen Leben als zukünftige Kandidaten für Ministerposten zu positionieren. Barbie, einer der „drei oder vier“ führenden Köpfe der „Widerstandsorganisation“, die mit mehreren Dutzend Mitgliedern über Hessen hinaus in der amerikanisch und in der britisch besetzten Zone aktiv ist, erstellt für die Angehörigen der Gruppe gefälschte Papiere, darunter vor allem Wehrmachts-Entlassungsschreiben. Zusätzlich übernimmt der wegen seiner ausgesprochen brutalen Verhörmethoden und zahlreicher Greueltaten während des Krieges als „Schlächter von Lyon“ bekannte SS-Mann auch die Besorgung von finanziellen Mitteln – und zwar mit kriminellen Methoden. So verschafft sich Barbie am 18. April 1946 Zugang zu einem Wohnhaus in Kassel und entwendet dort mit Unterstützung durch zwei Komplizen Juwelen im Wert von 100.000 DM aus dem Besitz einer jüdischen Adligen. Die an dem Diebstahl beteiligten Mittäter werden später von der Polizei verhaftet, Barbie selbst aber ist dem Zugriff der deutschen Justiz entzogen, da er zu dieser Zeit bereits für den militärischen Nachrichtendienst des amerikanischen Heeres (Counter Intelligence Corps, kurz: CIC) tätig ist.

Barbie war nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 10. und 11. November 1942 in das bis dahin unbesetzte Südfrankreich als Chef der Gestapo im Lyoner Kommando der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) tätig. Dort trug er maßgebliche Verantwortung für die Verfolgung und Ermordung von jüdischen Bürgern und Résistance-Angehörigen. Im zweiten Stockwerk des Lyoner Hotels Terminus erging er sich zur Beschaffung von Informationen in sadistischen Folteraktionen, bei denen Männer, Frauen und Kinder in jeder Beschreibung spottender Unmenschlichkeit gequält wurden.1 Weiterhin veranlasste er die Deportation von 44 jüdischen Kindern und ihrer Betreuer im April 1944 nach Auschwitz („Kinder von Izieu“) sowie die Erschießung von etwa 120, überwiegend der Résistance angehörigen Häftlingen in Saint-Genis-Laval und weiteren 109 jüdischen Résistants des Gefängnisses Fort Montluc im August 1944.
(KU)


  1. Vgl. DER SPIEGEL 21/1987, 18.5.1987, S. 186-204: Der Schlächter von Lyon: Klaus Barbie und die französische Kollaboration (III) / Von Heinz Höhne (Stand: 4.10.2016).
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Der SS-Kriegsverbrecher und „Schlächter von Lyon“ Klaus Barbie wird in Marburg verhaftet, 28. August 1946“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/4585> (Stand: 28.6.2023)
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