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Der erste Bundesfrauenkongress in Frankfurt markiert den Beginn der neuen deutschen Frauenbewegung, 11.-12. März 1972

Symbolische neun Monate nach der Veröffentlichung eines aufsehenerregenden Leitartikels des Magazins „STERN“, in dem Hunderte von teils prominenten Frauen erklären, einen illegalen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen zu haben, findet in Frankfurt am Main der erste Bundesfrauenkongress statt. Etwa 400 Frauen aus 40 Städten nehmen an der zweitägigen Veranstaltung teil, die in der Frankfurter Jugendherberge am Mainufer (Haus der Jugend e.V., Deutschherrnufer 12) abgehalten wird.

Der erste Bundesfrauenkongress ist Ausdruck und Kulminationspunkt der neuen deutschen Frauenbewegung, deren Entstehungsgeschichte aufs engste mit den Studentenprotesten der späten 1960er Jahre verbunden ist. Er markiert den Beginn der zweiten großen deutschen Frauenbewegung.
Zwei Ereignisse mit bedeutender Signalwirkung charakterisieren den Anspruch der neu erstarkenden feministischen Bewegung, die sich erst zu einem späteren Zeitpunkt bewusst in die Tradition der Emanzipationsversuche vorangegangener Frauengenerationen stellt: ein Tomatenwurf der Sprecherin des Aktionsrates zur Befreiung der Frau, Helke Sander (geb. 1937), auf einer Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt am Main am 13. September 1968, der auf plakative Art die männliche Dominanz selbst in den Reihen einer sich als antiautoritär definierenden und der Verwirklichung von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung verpflichteten progressiven gesellschaftlichen Randkraft entlarvte, und eine von der Illustrierten „STERN“ veröffentlichte Titelgeschichte, in der sich am 6. Juni 1971 374 teils prominente Frauen1 dazu bekennen, bereits abgetrieben, und damit gegen geltendes Recht verstoßen zu haben. Die Story ist Höhepunkt einer von der Frauenrechtlerin Alice Schwarzer (geb. 1942) ins Leben gerufenen Kampagne Frauen gegen den § 218 StGB, der seit dem 19. Jahrhundert2 Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt.
Als Vorbild diente die Kampagne „le manifeste des 343“, bei der in der am 5. April 1971 erschienenen Ausgabe der linksliberalen Wochenzeitschrift Le Nouvel Observateur 343 französische Frauen – darunter die auch über die Grenzen Frankreichs hinweg bekannten Künstlerinnen Catherine Deneuve (geb. 1943), Jeanne Moreau (1928–2017), Simone de Beauvoir (1908–1986), Delphine Seyrig (1932–1990) und Brigitte Fontaine (geb. 1939) – erklärt hatten, selbst schon einmal abgetrieben zu haben („Je me suis fait avorter“).

Der erste Bundesfrauenkongress und die zu seiner Entstehung beitragenden Vorgeschehnisse, das studentische Aufbegehren und die sich formierende Widerstandsbewegung gegen den § 218 setzen einen Schlusspunkt unter mehr als zwei Jahrzehnte bundesdeutsche Geschichte, die von patriarchalischen Strukturen in Politik und Gesellschaft geprägt wurden, und in denen es keine aktive politisch vorwärtsdrängende Frauenbewegung als Motor der Veränderung gab.3
Die von seinen Teilnehmerinnen aufgestellten Forderungen definieren gesellschaftspolitische Ziele, von denen die Mehrzahl in den folgenden Jahrzehnten zu zentralen „Baustellen“ der Sozialpolitik des Bundes werden wird, ohne das durchgängig befriedigende Lösungen gefunden werden können:
1. gleiche Löhne für gleichwertige Arbeit (und dazu die Abschaffung des Hausarbeitsgesetzes § 1356),
2. die Vergesellschaftung der Hausarbeit (Großküchen sollen der Hausfrau zeitraubende Vorarbeiten wie zum Beispiel Kartoffelschälen abnehmen),
3. Teilzeitarbeit für Mann und Frau,
4. Gratis-24-Stunden-Kindergärten und Ganztagsschulen,
5. ein Babyjahr für Mutter oder Vater statt des üblichen Mutterschutzes von sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt,
6. die steuerliche Gleichstellung von unverheirateten mit verheirateten Paaren,
7. und die Errichtung von Großwohnungen zu niedrigen Mieten, um die Isolation der Kleinfamilie aufheben zu können.4
Neben den aufgestellten Forderungen stechen außenstehenden Beobachtern der Kongressveranstaltung zwei Merkmale der neuen Frauenbewegung besonders ins Auge: zum einen die basisnahe Organisationsstruktur der maßgeblichen Interessengruppen wie zum Beispiel bei der bundesweit aktiven Kampagne Aktion 218, die sich als loser Zusammenschluss „reiner Frauengruppen“ versteht,5 zum anderen die „Übereinkunft sich separat zu organisieren, so lange Frauen in besonderer Weise und mehr unterdrückt sind als Männer“.6 Doch soll darin keineswegs zum Ausdruck gebracht werden, dass man prinzipiell Frontstellung gegen „die Männer“ bezieht: vielmehr schicke man sich an, eine bessere Lebenswelt für alle zu schaffen, denn auch Männer seien unterdrückt und ausgebeutet – sei es direkt durch die Verwertungslogik des Kapitalismus, sei es indirekt durch die gesellschaftliche Wirkungsmacht des patriarchalischer Verhaltensmuster, die den Männern keine freie Wahl lasse und sie „zusammengenommen zu dem mache, was sie sind“.7
(KU)


  1. Dazu gehörten unter anderem die Schauspielerinnen Romy Schneider (1938–1982), Senta Berger (geb. 1941), Vera Tschechowa (geb. 1940) und Veruschka Gräfin von Lehndorff (geb. 1939).
  2. Die Ursprungsfassung des § 218 wurde als Bestandteil des 1870 verabschiedeten Preußischen Reichsstrafgesetzbuchs bereits am 15. Mai 1871 in Kraft gesetzt.
  3. Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, S. 177.
  4. Quelle: Alice Schwarzer, Männer, wir kommen!
  5. Vgl. Profile der 1970er Jahre: Ein Themenportal des Seminars für Zeitgeschichte Tübingen: Frauenbewegung – Formen des Protests (Stand: 2.5.2012). Zwei Drittel der 36 in der Aktion 218 aktiven Frauengruppen schlossen sich erst unter dem Eindruck der von Schwarzer initiierten Kampagne Frauen gegen den § 218 und der davon ausgehenden Veröffentlichung der STERN-Titelstory zusammen.
  6. Zitiert nach Elisabeth Zellmer, Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München S. 157. Vgl. dazu auch Ursula Linnhoff, Warum organisieren wir uns als Frauen separat? Thesenpapier, vorgelegt auf dem Bundesfrauenkongreß in Frankfurt/M. am 11./12. März 1972, aus: Ursula Linnhoff, Die Neue Frauenbewegung, Köln 1974, S. 6 ff., in: Reinhard Neebe: Die Bundesrepublik Deutschland 1966–1990. Vom geteilten Land bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit, DigAM – digitales archiv marburg / Hessisches Staatsarchiv Marburg, eingesehen am 2.5.2012
  7. Elisabeth Zellmer, Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München; S. 157.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Der erste Bundesfrauenkongress in Frankfurt markiert den Beginn der neuen deutschen Frauenbewegung, 11.-12. März 1972“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/4339> (Stand: 27.11.2022)
Ereignisse im Februar 1972 | März 1972 | April 1972
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