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Massenkundgebung der NSDAP in Marburg, 11. Januar 1933

In Marburg findet in den Stadtsälen eine große Kundgebung der örtlichen NSDAP, der SA und der SS statt zur Frage „Was will das deutsche Volk?“ Auf der Veranstaltung sprechen, wie schon aus der Anzeige in der Oberhessischen Zeitung vom 9. und 10. Januar hervorgeht, der Rottenarbeiter und Gaubetriebszellenleiter Hilmar Stock aus Kassel, der als „Schwälmer Bauer“ angekündigte Parteigenosse Eckhardt Möller (1907–1997) aus Holzburg in der Schwalm und der Marburger Student Hanns-Joachim Stoevesandt (1904–1942). Der erste Redner hebt in seiner Ansprache hervor, dass in der Kundgebung ein Arbeiter, ein Bauern und ein Student sprächen, solle beweisen, daß der Nationalsozialismus nicht die Partei, sondern die Volksgemeinschaft wolle.

Die Oberhessische Zeitung vom 12. Januar berichtet: Vor der Versammlung fand ein Propagandamarsch der S.A. und S.S. unter Vorantritt des S.A. Trommler- und Pfeifenkorps durch die Straßen der Stadt statt. In mustergültiger Ordnung vollzog sich dieser Aufzug, an dem mehrere Hundert S.A.- und S.S.-Männer teilnahmen. In den Straßen und besonders auf den örtlichen Plätzen hatten sich zahlreiche Zuschauer eingefunden, die die Teilnehmer mit stürmischen Heilrufen begrüßten. Zu Störungen ist es an keiner Stelle gekommen.

Ganz anders fällt der Kommentar des Hessischen Tageblatts aus, der vom Verleger und Schriftleiter des Blatts Hermann Bauer (1897–1986) selbst stammen dürfte. Die Frage Was will das deutsche Volk? beantwortet er mit Befreiung von der nationalsozialistischen Hetze!. Er schreibt: Diese Frage lag der gestrigen Kundgebung der NSDAP zugrunde. Die gesamte SA und SS aus Marburg, verstärkt durch die braunen Truppen aus dem Umgegend, ja sogar aus Haina und der Schwalm, marschierte in geschlossenem Zug annähernd 400 Mann stark, durch die Stadt.
Was will das deutsche Volk? Es will zu geordneten Verhältnissen kommen, die jedem Arbeit und Brot geben.
Was aber will die NSDAP? Sie hat es selbst gestern durch die Straßen gesungen: „Wenn das Blut vom Messer spritzt, dann geht es umso besser!“
Ein Skandal ist es, was diese Partei sich anmaßt; ein Skandal ist es, daß Nationalsozialisten unter solch wahnwitzigem Sang die jugendliche Schar ihrer Anhängerschaft – kleine und kleinste Kinder sah man in dem Fackelzug – durch die Straßen führen.
Darum will das deutsche Volk (Gott sei Dank hat sich die Mehrheit ja noch das Gefühl für Sitte und Anstand erhalten!), daß diese maßlose Verhetzung, die bereits die Zahl der Verbrechen gegen Gut und Blut der Mitmenschen in unerhörter Weise gesteigert hat, mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln unterbunden wird.

Der auf der Veranstaltung als Marburger Student angekündigte Hanns Joachim Stoevesandt, geboren 1904 in Oberschlesien, hatte nach seinem Abitur 1924 zunächst Jura in Bonn studiert, bevor er sich zum Sommersemester 1928 in Marburg im gleichen Fach einschrieb. Er verließ Marburg schon nach dem Sommersemester 1929 wieder, um nach Kassel zu gehen, wo er am 1. April 1930 in die NSDAP eintrat. Seitdem arbeitete er als Redakteur und Schriftleiter der „Kurhessischen Landeszeitung“ und der nationalsozialistischen „Hessischen Volkswacht“. 1932 wurde er wegen öffentlicher Beleidigung des Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Ferdinand Friedensburg (1886–1972) verurteilt. Später war er vor allem im Bereich des Rundfunks tätig. Es erscheint demnach offensichtlich, dass Stoevesandt im Januar 1933 kein Marburger Student war, wie ihn die Partei darzustellen suchte, sondern nationalsozialistischer Redakteur und Agitator. Für die Partei wurde er 1933 auch Mitglied des Preußischen Kommunallandtags in Kassel. Er fiel 1942 an der Front.

Anmerkung:
Der verantwortliche Schriftleiter der Oberhessischen Zeitung, der Nationalsozialist Dr. Ernst Scheller (1899–1942), wurde am 27. April 1934 Oberbürgermeister der Stadt Marburg. Er fiel am 16. Januar 1942 „für Führer und Reich“ an der Ostfront. – Der Verleger und Schriftleiter des Hessischen Tageblatts, der Demokrat Hermann Bauer, musste am 29. April 1933 das Erscheinen seiner Zeitung, des letzten demokratischen Presseorgans der Region, auf Anweisung der NSDAP einstellen. Hermann Bauer gehörte 1946 als Mitglied der Verfassungberatenden Landesversammlung zu den „Vätern“ der Hessischen Verfassung. Er starb hochgeehrt und geschätzt 1986 in seiner Heimatstadt Marburg.
(OV)

Belege
Weiterführende Informationen
  • Universitätsarchiv Marburg 305, 1, Nr. 90
  • Staatsarchiv Marburg Best. 165 Nr. 6999
Empfohlene Zitierweise
„Massenkundgebung der NSDAP in Marburg, 11. Januar 1933“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2566> (Stand: 11.1.2023)
Ereignisse im Dezember 1932 | Januar 1933 | Februar 1933
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