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Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Vorgezogene Wahlen zum Deutschen Reichstag, 25. Januar 1907

Bei den vorgezogenen Wahlen zum 12. Deutschen Reichstag erringt das Reichskanzler Bernhard von Bülow (1849–1929) unterstützende Wahlbündnis zwischen Konservativen, Nationalliberalen und Linksliberalen eine Mehrheit.

Liberal-konservatives Wahlbündnis („Bülow-Block“)

Der zur Abwehr gegen die Sozialdemokratische Partei und das katholische Zentrum gedachte Zusammenschluss („Bülow-Block“) hatte zuvor mit nationalistischen, antisozialdemokratischen und gegen das Zentrum gerichteten Parolen Wahlkampf betrieben. Zugleich war man darum bemüht gewesen, durch die Einbindung der Linksliberalen die eigene Wählerbasis nach links in das fortschrittliche Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum hinein zu erweitern. Die vorzeitige Neuwahl des Reichstags war notwendig geworden, nachdem die Parlamentsmehrheit der Regierung am 2. August 1906 einen Nachtragshaushalt in Höhe von 29 Millionen Mark für die Weiterführung des Krieges in Deutsch-Südwestafrika verweigert hatte.1 Daraufhin hatte Reichskanzler von Bülow auf Verordnung von Kaiser Wilhelm II. den Reichstag aufgelöst.

Bülow hofft, mit dem aus den Reichstagswahlen hervorgegangenen konservativ-liberalen „Bülow-Block“ bald eine umfangreiche Finanzreform durchsetzen zu können, die er angesichts der großen Defizite als lebenswichtig für die gesamte innen- und außenpolitische Zukunft des Reiches erachtet. Eine bereits im Mai 1906 bewilligte Finanzreform reichte nicht aus, den Staat aus seinen Geldnöten zu befreien.

Reichsweit beteiligen sich an der Hauptwahl und den ihr folgenden, bis zum 5. Februar abgeschlossenen Stichwahlen 84,7 % der Wahlberechtigten. Von den vier größten Parteien ziehen jeweils insgesamt 105 Abgeordnete des Zentrums, 62 der Konservativen, 55 der Nationalliberalen und 43 der Sozialdemokraten in den Reichstag ein. Kaiser Wilhelm II. eröffnet den neu gewählten Reichstag am 19. Februar 1907 mit einer Thronrede.

Gewählte Abgeordnete

Bei der Reichstagswahl wird in jedem Wahlkreis nach absolutem Mehrheitswahlrecht (Persönlichkeitswahl) ein Abgeordneter gewählt. Von den hier aufgeführten Vertretern der Territorien des heutigen Landes Hessen wurden fünf im ersten Wahlgang gewählt, 21 setzten sich in der Stichwahl durch.

Königreich Preußen – Provinz Hessen-Nassau – Regierungsbezirk Wiesbaden

Brühne, Friedrich (1855–1928; SPD; Wahlkreis 1: Obertaunus, Höchst, Usingen)2
Buchsieb, Friedrich (1856–1933; Nationalliberale Partei; Wahlkreis 4: Limburg, Oberlahnkreis, Unterlahnkreis)3
Burckhardt, Georg (1848–1927; Christlich-soziale Partei; Wahlkreis 5: Dillkreis, Oberwesterwald)4
Dahlem, Anton (1859–1935; Zentrum; Wahlkreis 3: St. Goarshausen, Unterwesterwald)5
Lehmann, Gustav (1855–1926; SPD; Wahlkreis 2: Wiesbaden, Rheingau, Untertaunus)6
Oeser, Rudolf (1858–1926; Deutsche Volkspartei; Wahlkreis 6: Frankfurt am Main)7

Königreich Preußen – Provinz Hessen-Nassau – Regierungsbezirk Kassel

Böhme, Dr. Carl (1877–1940; Deutschsoziale Partei; Wahlkreis 5: Marburg, Frankenberg, Kirchhain)8
Herzog, Richard (1867–1950; Deutschsoziale Partei; Wahlkreis 1: Rinteln, Hofgeismar, Wolfhagen)9
Hoch, Gustav (1862–1942; SPD; Wahlkreis 8: Hanau, Gelnhausen)10
Lattmann, Wilhelm (1864–1935; Deutschsoziale Partei; Wahlkreis 2: Kassel, Melsungen)11
Liebermann von Sonnenberg, Max (1848–1911; Deutschsoziale Partei; Wahlkreis 3: Fritzlar, Homberg, Ziegenhain)12
Müller, Richard (1851–1931; Zentrum; Wahlkreis 7: Fulda, Schlüchtern, Gersfeld)13
Raab, Friedrich (1859–1917; Deutschsoziale Partei; Wahlkreis 4: Eschwege, Schmalkalden, Witzenhausen)14
Werner, Ludwig (1855–1928; DRp; Wahlkreis 6: Hersfeld, Rotenburg (Fulda), Hünfeld)15

Königreich Preußen – Provinz Westfalen – Regierungsbezirk Arnsberg

Stoecker, Adolf (1835–1909; Christlich-soziale Partei; Wahlkreis 1: Wittgenstein, Siegen, Biedenkopf)16

Königreich Preußen – Rheinprovinz – Regierungsbezirk Koblenz

Behrens, Franz (1872–1943; Christlich-soziale Partei; Wahlkreis 1: Wetzlar, Altenkirchen)17

Großherzogtum Hessen

Bindewald, Friedrich (1862–1940; Deutsche Reformpartei; Wahlkreis 3: Lauterbach, Alsfeld, Schotten)18
David, Eduard (1863–1930; SPD; Wahlkreis 9: Mainz, Oppenheim)19
Haas, Wilhelm (1839–1913; Nationalliberale Partei; Wahlkreis 6: Erbach, Bensheim, Lindenfels, Neustadt im Odenwald)20
Heyl zu Herrnsheim, Freiherr Cornelius von (1843–1923; Nationalliberale Partei; Wahlkreis 7: Worms, Heppenheim, Wimpfen)21
Keller, Philipp (1858–1908; Bund der Landwirte; Wahlkreis 8: Bingen, Alzey)22
Köhler, Philipp (1859–1911; Deutschsoziale Partei; Wahlkreis 1: Gießen, Grünberg, Nidda)23
Oriola, Graf Waldemar von (1854–1910; Nationalliberale Partei; Wahlkreis 2: Friedberg, Büdingen, Vilbel)24
Osann, Arthur (1862–1924; Nationalliberale Partei; Wahlkreis 4: Darmstadt, Groß-Gerau)25
Ulrich, Carl (1853–1933; SPD; Wahlkreis 5: Offenbach, Dieburg)26

Fürstentum Waldeck-Pyrmont

Potthoff, Heinz (1875–1945; FVg)27
(KU/LV)


  1. Die vorgezogenen Neuwahlen zum Reichstag erhalten deshalb bei zahlreichen Zeitgenossen die spöttische Bezeichnung „Hottentottenwahlen“. Der aus dem Holländischen stammende Ausdruck „Hottentotten“ wurde in der Kolonialzeit von den Buren als Sammelbezeichnung für die in Südafrika und Namibia lebende Völkerfamilie der Khoi Khoi verwendet und von den Siedlern der deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika übernommen. Er etablierte sich als hauptsächlich abwertend diskriminierend und rassistisch gebrauchter Spottname für die in Deutsch-Südwestafrika ansässige ursprüngliche Bevölkerung mit dunkler Hautfarbe.
  2. Brühne setzte sich in der Stichwahl mit 54,6 % der Stimmen gegen Peter Marzellin Itschert (1855–1928; Zentrum) durch, der den Wahlkreis seit 1903 im Deutschen Reichstag vertreten hatte. Vgl. Thomas Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 566 f.
  3. Buchsieb setzte sich in der Stichwahl mit 55,0 % der Stimmen gegen Peter Paul Cahensly (1838–1923; Zentrum) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 780.
  4. Burckhardt setzte sich im ersten Wahlgang mit 51,9 % der Stimmen gegen Dr. Walter Lohmann (1861–1947; Nationalliberale Partei; 43,0 %) und Louis Trott (1877–1958; SPD; 4,9 %) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 850-856.
  5. Dahlem setzte sich im ersten Wahlgang mit 54,9 % der Stimmen gegen Dr. Hermann Heydweiller (1858-1918; Deutsche Reichspartei; 41,4 %) und Friedrich Vetters (1861-1932; SPD; 3,7 %) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 725-731.
  6. Lehmann setzte sich in der Stichwahl mit 51,7 % (oder einem Vorsprung von 1.250 Stimmen bei 38.141 abgegebenen Stimmen) gegen den Nationalliberalen Eduard Bartling (1845–1927) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 648-653.
  7. Oeser setzte sich in der Stichwahl mit 52,2 % der Stimmen gegen den Sozialdemokraten Dr. Max Quarck (1860–1930) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 901.
  8. Böhme setzte sich in der Stichwahl mit 55,8 % der Stimmen gegen den Vertreter der Freien Vereinigung, Hellmut von Gerlach (1866–1935) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 311
  9. Herzog setzte sich in der Stichwahl mit 74,3 % der Stimmen gegen den Sozialdemokraten Oscar Vetterlein (1874–1955) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 93.
  10. Hoch setzte sich in der Stichwahl mit 51,4 % (oder einem Vorsprung von 1.122 Stimmen bei 39.339 abgegebenen Stimmen) gegen den Vertreter der Nationalliberalen, Dr. Georg Lucas (1865–1930) durch, der den Wahlkreis seit 1903 im Deutschen Reichstag vertreten hatte. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 500
  11. Lattmann setzte sich in der Stichwahl mit 54,4 % (oder einem Vorsprung von 3.505 Stimmen bei 39.605 abgegebenen Stimmen) gegen den Sozialdemokraten Heinrich Hüttmann (1868–1928) durch. Dieser hatte im ersten Wahlgang noch mit 43,3 % der Stimmen vorn gelegen. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 161
  12. Liebermann von Sonnenberg setzte sich im ersten Wahlgang mit 63,4 % der Stimmen gegen insgesamt vier Kandidaten durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 201.
  13. Müller setzte sich im ersten Wahlgang mit 65,2 % der Stimmen gegen Jean Hengsberger (geb. 1866; Deutsche Reichspartei, 31.1 %) und Romanus Göller (1866–1853; SPD; 3,7 %) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 445.
  14. Raab setzte sich in der Stichwahl mit 61,3 % der Stimmen gegen den Sozialdemokraten Friedrich Eckardt (1857–1913) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 256-261.
  15. Werner setzte sich in der Stichwahl mit 74,5 % der Stimmen gegen Richard Müller (1851–1931; Zentrum) durch, der aber ein Mandat im Wahlkreis 7 errang. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 379.
  16. Stoecker setzte sich im ersten Wahlgang mit 50,2 % der Stimmen gegen vier Kandidaten durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 938. Stoecker verstarb während der Legislaturperiode. In der Ersatzwahl am 11. Januar 1909 setzte sich der Antisemit Reinhard Mumm (1873–1932; Christlich-soziale Partei) mit 53,3 % der Stimmen gegen den Nationalliberalen Heinrich Vogel (1856–1934; Berghauptmann a.D.) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 940 f.
  17. Behrens setzte sich in der Stichwahl mit 58,1 % der Stimmen gegen den nach dem ersten Wahlgang vorn liegenden Nationalliberalen Heinrich Kraemer durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 979.
  18. Bindewald setzte sich in der Stichwahl mit 52,9 % (oder einem Vorsprung von nur 982 Stimmen bei 16.812 abgegebenen Stimmen) gegen den Nationalliberalen Dr. Karl Wallau (1855–1941) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 3, Marburg 1995, S. 152.
  19. David setzte sich in der Stichwahl mit 51,6 % (oder einem Vorsprung von nur 997 Stimmen bei 30.849 abgegebenen Stimmen) gegen den Kandidaten der Zentrumspartei, Joseph Molthan (1862–1920), durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 3, Marburg 1995, S. 422 f.
  20. Haas setzte sich in der Stichwahl mit 52,1 % (oder einem Vorsprung von nur 819 Stimmen bei 20.158 abgegebenen Stimmen) gegen den Kandidaten der Wirtschaftlichen Vereinigung, Otto Rippel (1878–1957), durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 3, Marburg 1995, S. 303.
  21. Freiherr von Heyl zu Herrnsheim setzte sich in der Stichwahl mit 59,2 % der Stimmen gegen den Kandidaten der Zentrumspartei, Philipp Uebel (1864–1929), durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 3, Marburg 1995, S. 342.
  22. Keller setzte sich in der Stichwahl mit 56,7 % der Stimmen gegen den Kandidaten der Freisinnigen Volkspartei, Reinhart Schmidt (1838–1909), durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 3, Marburg 1995, S. 377 f. Keller verstirbt während der Legislaturperiode am 21. Dezember 1908. In der am 26. Februar 1909 durchgeführten Ersatzwahl setzt sich Philipp Uebel (1864–1929; Zentrum) in der Stichwahl mit 52,3 % der Stimmen gegen den Kandidaten der Freisinnigen Vereinigung, Adolf Korell (1872–1941), durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 3, Marburg 1995, S. 381.
  23. Köhler setzte sich in der Stichwahl mit 52,2 % (oder einem Vorsprung von nur 968 Stimmen bei 22.761 abgegebenen Stimmen) gegen den Nationalliberalen Louis Heyligenstaedt (1842–1910) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 3, Marburg 1995, S. 43.
  24. Graf von Oriola setzte sich in der Stichwahl mit 57,5 % der Stimmen gegen den Sozialdemokraten Heinrich Busold (1870–1915) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 3, Marburg 1995, S. 97-101.
  25. Osann setzte sich in der Stichwahl mit 53,0 % der Stimmen gegen den Sozialdemokraten Heinrich Berthold (1856–1935) durch, der den Wahlkreis seit 1906 im Deutschen Reichstag vertreten hatte. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 3, Marburg 1995, S. 190.
  26. Ulrich setzte sich in der Stichwahl mit 55,4 % der Stimmen gegen den Kandidaten der Wirtschaftlichen Vereinigung, Georg Dern (Volksschullehrer in Neu-Isenburg), durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 3, Marburg 1995, S. 232.
  27. Potthoff setzte sich in der Stichwahl mit 52,0 % der Stimmen gegen den Antisemiten Dieprand Freiherr von Richthofen (1875–1946; Deutschsoziale Partei) durch. Vgl. Klein, Die Hessen als Reichstagswähler, Bd. 1, Marburg 1989, S. 1021.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Vorgezogene Wahlen zum Deutschen Reichstag, 25. Januar 1907“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2238> (Stand: 25.1.2023)
Ereignisse im Dezember 1906 | Januar 1907 | Februar 1907
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