Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe
Oberste Heeresleitung unter Feldmarschall von Hindenburg von Spa nach Kassel-Wilhelmshöhe verlegt, 15. November 1918
Die Oberste Heeresleitung des kaiserlichen Heeres wird von Spa (Belgien) nach Kassel-Wilhelmshöhe verlegt. Hauptmann Adalbert von Wallenberg, der (vermutlich) zum Stab des Feldmarschalls von Hindenburg gehörte, beschreibt die Fahrt nach Kassel und Zeit in Wilhelmshöhe aus eigener Erinnerung:
Am 11. November wurde der Waffenstillstand geschlossen. Die schnelle Rückführung des deutschen Millionenheeres aus Frankreich und Belgien, die gleichzeitige Auslieferung so vielen Materials inmitten der Revolutionswirren stellte neue Anforderungen an die Oberste Heeresleitung, die zunächst schwer lösbar schienen. In Berlin zitterte man bei dem Gedanken, das Heer könne sich auflösen und in Unordnung die Heimat überschwemmen.
Unsere Generalstabsoffiziere gingen schnell an die bittere Arbeit, die Befehle für die Zurückführung aufzustellen und auszugeben. Dann mußte die Oberste Heeresleitung ihr Quartier wechseln, das in absehbarer Zeit den Alliierten zu übergeben war. Mitten in der Nacht verließen der Feldmarschall, Groener und die Operationsabteilung die belgische Stadt [Spa], die wir einst in der Hoffnung auf Sieg erreicht hatten. Schwere Gedanken sanken auf uns nieder. In Herbesthal [Ostbelgien, 1918 deutscher Grenzort] mußte der Widerstand kindischer Soldatenräte überwunden werden. Dann umfing uns die Heimat.
Als der trübe Herbsthimmel vom 15. November 1918 sich zu erhellen begann, fuhr der Zug der Obersten Heeresleitung die Lahn entlang. Auf Bahnhof Gießen trotteten Mannschaften mit roten Armbinden hin und her, Haufen zertrümmerter Gewehre lagen auf den Steinen. Es war wie ein Sinnbild der beginnenden Selbstentwaffnung. Man zerschlug seine Wehr und glaubte dadurch den Krieg zu beseitigen, den Feind zu versöhnen. Ein wenig mehr Ordnung schien in Marburg zu herrschen. Dann empfing uns die Schönheit des Hessenlandes, und außerhalb der Städte könnte man fast glauben, es habe nie Krieg und nie Revolution gegeben.
Am späten Vormittag lief der Zug in den Bahnhof Wilhelmshöhe bei Kassel ein. Die auffallende Ordnung, der freundliche und ehrerbietige Empfang taten dem Herzen des Feldmarschalls wohl. Der Arbeiter- und Soldatenrat, nicht mit roten, sondern mit schwarz-weißen Binden ausgestattet, meldete sich dienstlich, und man hatte das Gefühl, daß die an der Allee stehenden Menschen es darauf ablegten, dem ernsten, treuen Manne mit den Äußerungen ihrer Hingabe wohlzutun.
Vom Hotel aus gingen wir an der dunklen Wand des Habichtswaldes entlang in das Schloß. Einer von uns trat wortlos an ein Klavier und spielte: „Ein feste Burg ist unser Gott!“ Im Hotel selbst war die Aufnahme freundlich und würdig. Die Verpflegung wurde dienstlich geliefert, sie war erbärmlich schlecht auch in der Zubereitung, und es lag vielleicht ein klein wenig Absicht darin, der obersten Spitze des Heeres die Not der Zeit recht fühlbar zu machen. Mitten zwischen hundert Angestellten und Offizieren saß der Feldmarschall und löffelte aus einem Napf eine Suppe, deren Zusammensetzung für Magen und Zunge ein Rätsel war. Es war gewiß nichts dagegen zu sagen, daß der Feldmarschall in diesen Wochen auf Feldküchenkost angewiesen wurde. Aber auch hierin gibt es ja gewisse Unterschiede in der Herrichtung. Das Wesentliche und Charakteristische war die Selbstverständlichkeit, mit der der alte Herr sich mit Form und Inhalt der Mahlzeiten zufrieden gab.
Für uns Jüngere wurde bis in den Sommer 1919 hinein Kommißbrot mit Kunsthonig das geläufige Nahrungsmittel. Den Kunsthonig konnten wir schließlich kaum noch sehen, und einer von uns beneidete launig Johannes den Täufer, der doch wenigstens echten Honig zu seinen Heuschrecken hatte verzehren dürfen.
Am Nachmittage unserer Ankunft kamen zahlreiche Abordnungen aus Kassel, um dem Feldmarschall zu huldigen. Eine große Anzahl Kinder umringte ihn und sang, dann sprach die begleitende Lehrerin von der Schwere der Zeit, während all die jungen Augen an dem ernsten Antlitz Hindenburgs hingen. Der Feldmarschall war erschüttert von der Liebe, die ihm aus den Kinderherzen entgegenschlug. Die Tränen stiegen ihm in die Augen, und er sagte schluchzend: ‚Ja, die Zeit ist schwer, furchtbar schwer. Aber wir wollen auf Gott vertrauen, dann wird es wieder besser werden‘.
Die Regierung schickte uns sozialdemokratische Abgeordnete als Überwachungskommissare. Teils waren sie als Schutz gedacht, um Hindenburg vor den Anrempelungen wild gewordener Soldatenräte zu behüten, teils entsprach die Entsendung der Besorgnis, die Entsendung der Besorgnis, die Oberste Heeresleitung könne der ‚Hort der Reaktion‘ werden und die ‚Errungenschaften der Revolution‘ zunichte machen. Diese Herren, die wir ‚unsere Haussozi‘ nannten, wurden von uns mit einigem Interesse betrachtet. Man mußte aufrichtig zugeben: nicht einer unter ihnen war taktlos, nicht einer vergaß die Ehrfurcht vor dem alten Mann, der sich den Verhältnissen beugte und doch seine monarchische Überzeugung frei auf den Lippen und im Herzen trug, das gerade Gegenteil aller jener Konjunkturausnutzer und Novemberdemokraten, die damals wie Pilze aus der Erde schossen.
Wir kamen mit den zugeteilten Sozialdemokraten in das Gespräch. Manche Ansicht über den Offiziersstand vernahmen wir, die uns mit Staunen erfüllte. Man hatte uns für ‚Schwerkapitalisten‘ gehalten, für ‚reiche Junker‘, für ‚Prasser‘ und war nun überrascht, dass wir still unserer Arbeit nachgingen, und daß nicht einer von uns nennenswertes Vermögen besaß und von der drückenden Sorge um seine und seiner Angehörigen Zukunft entlastet war. Einer der Kommissare kaum aus dem Staunen über das Leben im Großen Hauptquartier gar nicht heraus und bot immer wieder an, in sozialdemokratischen Blättern über den Offiziersstand aufzuklären.
(OV)
- Belege
- Adalbert von Wallenberg, Größe im Unglück, in: Hindenburg – Denkmal für das deutsche Volk, hrsg. von Paul Lindenberg, 1924, S. 353-390, hier S. 378-380
- Empfohlene Zitierweise
- „Oberste Heeresleitung unter Feldmarschall von Hindenburg von Spa nach Kassel-Wilhelmshöhe verlegt, 15. November 1918“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/3885> (Stand: 25.1.2021)