Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Beginn der documenta 6 in Kassel, 24. Juni 1977

In Kassel öffnet die nach 1955, 1959, 1964, 1968 und 1972 sechste documenta „d6“ als international rezipierte, umfassende Schau moderner Gegenwartskunst ihre Pforten für das Besucherpublikum. Bereits zum zweiten Mal nach 1963 (documenta 3) musste die documenta 1976 aufgrund verzögernder Konzept- und Organisationsstreitigkeiten um ein Jahr verschoben werden.

Organisation und Konzept

Als künstlerischer Leiter tritt Manfred Schneckenburger (1938–2019) die Nachfolge von Harald Szeemann an, der 1972 durch die Einbeziehung politisch-kritischer Diskurse und die Präsentation provozierender Gegenkunst-Konzepte (von „Happening“ und Fluxus bis zur „Bildnerei der Geisteskranken“ und „Nicht-Kunst“) weitgehend mit der eher konservativ-vorsichtigen konzeptionellen Ausrichtung der Vorgängerveranstaltungen gebrochen hatte und mit einer deutlichen („enzyklopädischen“) Ausrichtung der Ausstellung an unmittelbar gegenwärtigen und zukunftsweisenden Strömungen auf die 1968 von einer jüngeren Künstlergeneration in vermehrtem Maß geäußerte Kritik antwortete. Der 1938 in Stuttgart geborene Schneckenburger, 1973/74 als Direktor der Kunsthalle Köln tätig, entwickelt gemeinsam mit dem Kulturjournalisten Lothar Romain (1944–2005) ein am Thema „Medien“ ausgerichtetes Gesamtkonzept, das die sechste documenta als Untersuchungsraum für „das Verhältnis der Kunst zu ihren medialen Voraussetzungen“ inszeniert.1 Ihren Anspruch als „Mediendocumenta“ untermauert die diesjährige Schau zur zeitgenössischen Kunst des 20. Jahrhunderts, die mit 2.700 Werken aus der Hand von 655 Künstlerinnen und Künstlern eine Rekordmarke aufstellt, in verschiedenen Sektionen, wobei – dem Gesamtkonzept entsprechend – erstmals bewusst eine Trennung nach Medienformaten (Malerei, Skulptur, Fotografie, etc.) vorgenommen wird. Eine retrospektive Gesamtschau zur Geschichte der Fotografie unter konzeptioneller Leitung von Klaus Honnef (geb. 1939) und Evelyn Weiss (1938–2007) breitet ein Panorama aus 150 Jahren Lichtbildkunst vor den Besuchern aus und versteht sich als Beitrag zur weiteren Etablierung und begrifflichen Verstetigung des in den 1970er Jahren in Deutschland noch stark umstrittenen Kunstcharakters der Fotografie. Neue Technologien, insbesondere elektronische Bildmedien halten Einzug. Die Laserskulptur Laserscape von Horst H. Baumann erleuchtet den nordhessischen Nachthimmel.

Drohender Wasserschaden in der Orangerie

Allerdings verläuft die Verwirklichung auch dieser documenta nicht ohne Schwierigkeiten. Im Vorfeld hat besonders die Sammlung der Handzeichnungen für Kopfzerbrechen bei der documenta-Leitung gesorgt, die von dem in Frankfurt geborenen, österreichischen Kunsthistoriker Wieland Schmied (1929–2014) konzipiert worden ist. Eigentlich als Aktualisierung der 1964 unter künstlerischer Leitung von Werner Haftmann sehr erfolgreichen Sektion gedacht, droht dieser Ausstellungsteil noch kurz vor Eröffnung der documenta VI buchstäblich „ins Wasser zu fallen“. Nachdem schon ein Gutteil der wertvollen Werke ihren Ausstellungsplatz in der Orangerie (Kasseler Karlsaue) bezogen hatte, zeigte sich das Dach des eben erst im Rohbau wiedererrichteten Gebäudes den Wassermassen aus zwei heftigen Gewitterregen nicht gewachsen: Die Luftfeuchtigkeit in den Ausstellungsräumen überschreitet teils deutlich die für die Zeichnungen erlaubte Grenzmarke. Die Verantwortlichen der Arbeitsgruppe Handzeichnungen (neben Schmied noch Erich Herzog (1917–2000) und Carl Albrecht Haenlein (geb. 1933)) teilen daraufhin am 15. Juni dem Geschäftsführer der documenta per Einschreiben mit, dass man sich gezwungen sähe, die Arbeiten vorläufig ganz einzustellen. Für Schäden an den gehängten Kunstobjekten könne man keine Verantwortung übernehmen. Ähnlich unglücklich verläuft die Vorbereitung des die Zeichnungsausstellung begleitenden Katalogs, dessen Bearbeitung man in die Hände eines freien externen Mitarbeiters gelegt hat. Angesichts der ernüchternden Vielzahl von enthaltenen Fehlern, die aus Zeitmangel nicht revidiert werden konnten, sehen sich Geschäftsführung, Generalsekretär und der für die Abteilung Verantwortliche genötigt, eine gemeinsame schriftliche Erklärung abzugeben, die darüber informiert, dass man „für etwaige Fehler und Irrtümer keine Verantwortung trage“.2

Bohrloch und Stahlkoloss: Kunst außerhalb der traditionellen Wahrnehmungszusammenhänge erobert Kassels öffentlichen Raum

Auch andere „Baustellen“ der Kasseler Kunstschau sorgten in den der Eröffnung vorangegangenen Tagen und Wochen für Missmut. Der Vortrieb des sogenannten Kasseler Bohrlochs, das der amerikanische Künstler Walter De Maria zur Verwirklichung seines „Vertikalen Erdkilometers“ dauerhaft auf dem Friedrichsplatz installieren will, und das mit massiven Messingstäben von fünf Zentimetern Durchmesser gefüllt werden soll, wurde Anfang Juni bei einer Tiefe von 396 Metern abgebrochen, nachdem das Bohrgestänge eines Meißels gebrochen war.3 Darüber hinaus erregt der auf dem Friedrichsplatz thronende Bohrturm mit dem ihn umgebenden unansehnlichen Bauzaun und einer mehr als vernehmlichen Geräuschkulisse bei zahlreichen Kasseler Bürgern ärgerliche Reaktionen. Und auch das direkt vor dem Fridericianum platzierte Terminal Richard Serras, vier riesige trapezförmige Platten aus wetterfestem Baustahl, zwölf Meter hoch und fast 100 Tonnen schwer, trifft auf Ablehnung.4 Beide Exponate sind Paradebeispiele für den zunehmend unmusealen Charakter der im Rahmen der documenta präsentierten Gegenwartskunst, die nach und nach den öffentlichen Raum der einzigen nordhessischen Großstadt erobert. Auch an anderer Stelle findet das Paradigma einer „physikalischen Raum- und Objekterfahrung“ Bestätigung: ein Trend zur „horizontalen Plastik“, den Ausstellungsleiter Schneckenburger proklamiert, manifestiert sich in unterschiedlichen Skulpturen, die die barocke Parkanlage der Karlswiese vor der Orangerie erschliessen.

Erstmals sozialistische Kunst

Für Aufsehen sorgen heftige Diskussionen, die in Zusammenhang mit dem Ausstellungsschwerpunkt „Kunst des Sozialismus“ stehen. Zum ersten Mal öffnet sich in diesem Jahr die documenta für die Teilnahme von sechs „offiziellen“ Künstlern aus der DDR. Einige Künstler ziehen sich daraufhin von ihrer bereits zugesagten Ausstellungsteilnahme zurück.

Die „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ von Joseph Beuys

Ein nachhaltig Eindruck hinterlassendes Ensemble aus eigenwilligen Installationen und Aktionskunst steuert wieder einmal Joseph Beuys bei, dessen „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ im Erdgeschoss des Fridericianums 150 kg Honig durch ein umlaufendes System von Schläuchen transportiert. Die als Metapher für den menschlichen und gesellschaftlichen Organismus gemeinte Installation („soziale Plastik“) ist Bestandteil des von Beuys für die Dauer der documenta VI unter der Bezeichnung Free International University (FIU)eingerichteten Diskussionsforums, zu dem er die documenta-Besucher einlädt. Ergänzend will der gebürtig aus Krefeld stammende Aktionskünstler eine öffentliche Konferenz abhalten, zu Gast sind zahlreiche Künstler, Wissenschaftler, Journalisten, Ärzte, Vertreter von gesellschaftlich benachteiligten Minderheiten, politisch Verfolgte und Exilanten, sowie eine Abordnung des Combine Shop Stewards Committee (eine Art inoffizielle Gesamtpersonalvertretung) des britischen Luftfahrt- und Rüstungskonzerns Lucas Aerospace, dessen Belegschaft angesichts von (durch die Einführung numerisch gesteuerter Produktionstechnik verursachte) Massenentlassungen im Januar 1976 der eigenen Firmenleitung ein radikales Alternativkonzept zur Umgestaltung kapitalistischer Produktions- und Eigentumsverhältnisse vorgelegt hatte.
(KU)


  1. Vgl. Harald Kimpel, documenta – die nachrückende Avantgarde, in: Johannes Kirschenmann/Florian Matzner (Hrsg.), documenta Kassel. Skulptur Münster, Biennale Venedig (Kontext Kunstpädagogik 13) München 2007, S. 9–43, hier: S. 30.
  2. Zitiert nach DIE ZEIT 27/1977, 1.7.1977, S. 29: Die documenta VI beginnt mit Pannen, dennoch: Auf nach Kassel. Als pdf-Dokument im Archiv bei ZEIT ONLINE (von Petra Kipphoff; eingesehen am 14.5.2012)
  3. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.6.1977, S. 21.
  4. Nachdem zunächst die Stadt Kassel im Frühjahr 1977 überlegt hatte, Serras Terminal anzukaufen (für eine Summe von voraussichtlich 150.000 bis 200.000 DM, vgl. DER SPIEGEL 19/1977, 2.5.1977, S. 205: Kunst: Thyssens Kartenhaus, eingesehen am 21.10.2016) avancierte der Koloss schließlich zum Wahrzeichen der documenta VI. 1979 entschloss sich die Stadt Bochum trotz heftiger Bürgerproteste, Terminal für 350.000 DM zu kaufen und an dem von Serra favorisierten Standort, einer schmalen Verkehrsinsel am Bochumer Hauptbahnhof (Kreuzung Ostring / Wittener Straße), dauerhaft zu installieren. Heute ist Terminal das einzige international Erwähnung findende Kunstwerk im Besitz der Stadt Bochum
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Beginn der documenta 6 in Kassel, 24. Juni 1977“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/1387> (Stand: 26.11.2022)
Ereignisse im Mai 1977 | Juni 1977 | Juli 1977
Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30