Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Biografie

Platiel, Nora [ID = 3983]

* 14.1.1896 Bochum, † 6.9.1979 Kassel, Begräbnisort: Kassel Hauptfriedhof, jüdisch
Sekretärin, Juristin, Widerstandskämpferin, Frauenrechtlerin, Politikerin, Abgeordnete
Andere Namen | Wirken | Familie | Nachweise | Leben | Zitierweise
Andere Namen

Geburtsname:

Block, Eleonore

Weitere Namen:

  • Block-Platiel, Nora
  • Block, Nora

Pseudonym(e):

Kolb, Nora

Wirken

Werdegang:

  • 1906-1912 Besuch des Gymnasiums in Bochum
  • nach dem Tod des Vaters tätig im elterlichen Geschäft bis 1917
  • 1917/18 Tätigkeit bei der Internationalen Kriegshilfe in Rumänien
  • ab 1918/19 Tätigkeit als Sekretärin bei den Frauenrechtlerinnen Helene Stöcker und Elisabeth Rotten in Berlin
  • 1920/21 Katalogisierung einer Kunstsammlung in Dänemark
  • bereitete sich 1921 mit Hilfe eines Stipendiums auf das Abitur vor, 1922 Abitur in Berlin
  • 1922 Eintritt in die SPD
  • 1922-1924 Studium der Nationalökonomie und Sozialwissenschaften an der Universität Frankfurt am Main
  • 1924-1927 Studium der Rechte und Rechtsphilosophie an der Universität Göttingen
  • Kontakt zu Leonard Nelson und dessen Internationalem Jugendbund (IJB)
  • 1927 Juristisches Staatsexamen in Celle
  • 1928-1931 Gerichtsreferendarin in Bochum und Kassel, unter anderem bei Erich Lewinski
  • 1931-1933 Rechtsanwältin in Bochum, befasste sich vorwiegend mit Ehescheidungen und der Strafverteidigung von Gegnern des Nationalsozialismus
  • 1933 aus rassischen und politischen Gründen von der Anwaltsliste gestrichen und zur Emigration gezwungen
  • Flucht nach Paris, journalistische und redaktionelle Arbeit für verschiedene Widerstandsblätter
  • 1934-1939 Syndikus und juristische Beraterin der Firma Omnium Metallurgique
  • 1939 Leiterin der Abteilung „Soziale Enquete“ in einem Pariser Flüchtlingskomitee
  • 1940 Internierung im südfranzösischen Ausländerlager Gurs, Flucht nach Montauban, Tätigkeit für Flüchtlingshilfsorganisationen
  • 1943 Flucht in die Schweiz, Tätigkeit in der Flüchtlingshilfe, erneut interniert, Entlassung nach Haftunfähigkeit aufgrund einer Wirbelsäulenverletzung
  • 1943-1946 ehrenamtliche Tätigkeit im Schweizerischen Arbeiter-Hilfswerk in Zürich, dabei 1945 Teilnahme an der Flüchtlingskonferenz in Montreux
  • 1946-1949 berufliche Tätigkeit als Organisationsleiterin von Hilfsaktionen für Kinder, Mütter und Jugendliche in Europa, daneben Mitglied eines Initiativkomitees zur Unterstützung des kriegsgeschädigten Kindes
  • 1949 Rückkehr nach Deutschland als Landgerichtsrätin in Kassel, Vorsitzende einer Entschädigungskammer
  • aktive Mitarbeit in der Kasseler SPD und in der Gewerkschaft ÖTV
  • 1951 Landgerichtsdirektorin in Kassel
  • 1.12.1954-30.11.1966 Mitglied des Hessischen Landtags, dort 1962-1966 Vorsitzende des Unterausschusses zur Überprüfung der Gefängnisse und Strafanstalten, 1958-1966 stellvertretende Vorsitzende des Rechtsausschusses, 30.3.1960-30.11.1966 stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion
  • 1961-1969 Vorsitzende des Kasseler Kunstvereins
  • 1961 Organisation der Ausstellung „Graphik und Zeichnungen israelischer Künstler“, dafür Anerkennungsurkunde der Hebräischen Universität Jerusalem
  • 1964 Mitglied der 4. Bundesversammlung
  • 1966 Auszeichnung mit der Goethe-Plakette
  • nach 1967 Mitglied des Hessischen Staatsgerichtshofs
  • 1969 Auszeichnung mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen

Funktion:

  • Hessen, 03. Landtag, Mitglied (SPD), 1954-1958
  • Hessen, 04. Landtag, Mitglied (SPD), 1958-1962
  • Hessen, 05. Landtag, Mitglied (SPD), 1962-1966
Familie

Vater:

Block, Bendix, 1859–1912, aus Welda bei Warburg in Westfalen, Textilkaufmann

Mutter:

Mayer, Therese, * 1860

Partner:

  • Platiel, Hermann, GND (⚭ Montauban 1943) 1886–1880, Leiter der ISK-Gruppe Leipzig, nach der Emigration Sekretär der französischen Esperanto-Sektion und Redakteur der „La Kritika Observanto“, in Kassel Geschäftsführer der Volksbühne

Verwandte:

  • Platiel, Roger <Sohn>, 1934–1978, Maler, Grafiker
Nachweise

Literatur:

Bildquelle:

http://www.kassel.de/cms02/stadt/frauen/geschichte/info/06234/index.html

Leben

Nora Platiel wurde am 14. Januar 1896 als Eleonore Block in Bochum geboren. Sie war das achte von zehn Geschwistern. Ihre Eltern Bendix und Therese Block betrieben ein Bekleidungsgeschäft in Bochum. Trotz hoher Arbeitsbelastung waren die Beziehung der Eltern und das Familienleben sehr herzlich und harmonisch. Das Haus wurde mitunter auch „Blockstation“ genannt, weil viele Menschen ein und aus gingen. Die Familie Block lebte nicht nur in einer Hausgemeinschaft mit einem Verkäufer und zwei Hausangestellten. Der Vater war noch für weitere Kinder als Vormund eingesetzt, sodass die „Blockstation“ auch einen regen Treffpunkt für die Kinder aus der Nachbarschaft darstellte. Die Familie Block gehörte der jüdischen Gemeinde an, lebte jedoch nach liberalen Grundsätzen.

1912 starb Bendix Block an einem Gallenleiden. Der plötzliche Verlust des geliebten Vaters bedeutete für Nora Block den ersten tiefen Einschnitt ihres Lebens. Sie konnte ihre Schulausbildung nicht beenden und musste ihre bisherige Lebensplanung aufgeben. Der Lebensunterhalt der Familie war ungesichert und Nora Block war gezwungen, sich Arbeit zu suchen. Zunächst half sie noch in der vom Vater neu gegründeten Reklamefirma mit, jedoch konnte deren Bankrott nicht verhindert werden. 1917 verließ sie Deutschland und meldete sich zur Internationalen Kriegsdiensthilfe. In Rumänien war sie als Sekretärin tätig.

Nach dem Weltkrieg kehrte sie nicht nach Bochum zurück, sondern suchte in Berlin eine Anstellung. Sie fand Arbeit bei Helene Stöcker, wieder als Sekretärin. Diese vermittelte ihr nach wenigen Wochen eine weitere Anstellung bei Elisabeth Rotten. Ihre Tätigkeit für die Leiterinnen des „Deutschen Bundes für Mutterschutz“ und die „Deutsche Liga für Völkerrecht“ bestimmte noch Jahre später Nora Blocks politisches Denken. Ermuntert durch Helene Stöcker strebte sie einen höheren Bildungsabschluss an. Durch den befreundeten Fabrikanten Ernst Schlesinger, der als ihr Gönner auftrat, konnte sie ihr Abitur nachholen. 1922 erhielt sie die Hochschulzugangsberechtigung.

Nach ihrem Abitur ging Nora Block an die Universität Frankfurt am Main. Ihre erste Fachwahl war dabei Nationalökonomie und Sozialwissenschaften, doch befriedigte die Fächer nicht ihre Vorstellungen. Die Wahl fiel nun auf Jura und Rechtsphilosophie, zudem wechselte sie nach Göttingen. Den Anwaltsberuf wählte sie, weil sie sich für die Durchsetzung des Rechts in der Gesellschaft einsetzen wollte. Göttingen war auch deshalb entscheidend, weil sie die Verbindung zu Leonard Nelson und den Internationalen Jugendbund (IJB) intensivieren wollte. Während eines Sommercamps war sie auf den Philosophen und den Bund aufmerksam geworden. Leonard Nelson prägte sie nicht nur während des Studiums, sie richtete ihr eigenes Leben nach seinen ethischen und politischen Ideen aus. Sie war gefesselt von der Idee des „Ethischen Sozialismus“, für den Nelson stand. Seine wissenschaftliche Arbeit war darauf ausgerichtet, konsequent in politisches, praktisches Handeln umgesetzt zu werden. Um Mitglied im IJB werden zu können, mussten mehrere Bedingungen erfüllt werden. Ein unablässiges Engagement für den Sozialismus war entscheidend und die Mitglieder mussten in einer Arbeiterorganisation oder -partei aktiv mitarbeiten. Ein Leben ohne Alkohol und Nikotin sowie eine vegetarische Ernährung waren selbstverständlich. Die Mitglieder durften keiner Kirche angehören, da diese sich nicht mit dem Sozialismus vertrage. Nora Block fiel der Abschied von ihrer Religion nicht besonders schwer. Sie agitierte vehement für den Kirchenaustritt unter den Genossinnen und Genossen. Doch die größte Schwierigkeit für die Anhängerinnen und Anhänger der Philosophie Nelsons war die Forderung nach einer zölibatären Lebensweise. Die Mitglieder des IJB sollten keine persönlichen Bindungen aufbauen, die sie an ihrer sozialistischen Arbeit hindern konnten. Aus diesem Grunde war der IJB wie auch seine Nachfolgeorganisation, der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK), immer nur eine kleine elitäre Gruppe, die nie mehr als ein paar Hundert Mitglieder in Deutschland hatte.

Das Staatsexamen legte Nora Block 1927 in Celle ab. In Kassel begann sie ihr Referendariat bei dem ISK-Mitglied Erich Lewinski. Über ihn entstand auch die lebenslange Freundschaft zu Georg August Zinn, der zu dieser Zeit ebenfalls sein Rechtsreferendariat ablegte. Nach bestandener Assessorenprüfung eröffnete Nora Block in Bochum eine eigene Anwaltspraxis und war dabei hauptsächlich als Strafverteidigerin in politischen Prozessen tätig. Aus Bochum, schon Anfang der 1930er-Jahre eine faschistische Hochburg, floh Nora Block sofort nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 nach Frankreich ins Exil, da nicht nur ihre Anwaltstätigkeit, sondern auch ihre aktive Arbeit in der Ortsgruppe des ISK befürchten ließen, dass sie bei einem Bleiben starken Repressionen ausgesetzt sein würde.

Viele ISK-Mitglieder wählten während des Zweiten Weltkriegs Paris als ihr Exil, doch nicht alle konnten dort Arbeit finden und ihren Lebensunterhalt bestreiten. Dies war auch durch verstärkte bürokratische Hindernisse der französischen Verwaltung unterbunden. Für die mittellosen Genossinnen und Genossen wurde darum ein Fonds gegründet, sodass ISK-ler, die Einkommen bezogen, mit Einzahlungen die Nichtverdienerinnen unterstützten. Auch Nora Block fand erst im September 1933 Arbeit. Während der ersten Zeit des Exils lebte Nora Block mit Gerhard Kumleben zusammen. Es entstand eine Liebesbeziehung zwischen ihnen und mit 38 Jahren entschied sich Nora Platiel für ein Kind und musste sich deshalb vielen Anfeindungen innerhalb des ISKs aussetzen. Die Beziehung zu Kumleben hielt den Exilbelastungen jedoch nicht stand. Zur Zeit der Geburt ihres Sohnes Roger lebte Nora Block bereits in einer Wohngemeinschaft mit einer Freundin. Ihre Arbeit konnte sie nur für kurze Zeit aufgeben, da sie schnell wieder auf Erwerb angewiesen war. Da die Betreuung ihres Kindes dabei zum Problem wurde, entschloss sie sich im Sommer 1936 dazu, Roger nach Dänemark zu bringen. Dort hatte Minna Specht mit anderen Lehrern der „Walkemühle“ die „Schule im Exil“ gegründet. Noch vor Kriegsausbruch gelang es Nora Block ihren Sohn noch einmal zu besuchen, die „Schule im Exil“ musste 1938 nach England flüchten, jedoch versuchte sie stets so engen Kontakt wie möglich mit Roger zu halten.

Ab Mai 1934 erschien das Parteiorgan des ISK, die Sozialistische Warte in Paris. Nora Block war hier redaktionell tätig, schrieb in der ganzen Zeit des Exils aber auch Artikel für weitere Widerstandsorgane. Seit April arbeitete sie als juristische Beraterin in einer Firma. Mit ihrer Schwester Herta Walter, die ebenfalls im ISK aktiv war, ging sie Ehrenämtern in jüdischen Hilfsorganisationen nach. Die feste Organisationsstruktur des ISK blieb auch während des Exils erhalten, so dass sich die ISK-ler leichter als andere Exilanten orientieren konnten und Anknüpfungspunkte fanden. Im Januar 1939 setzte in Frankreich jedoch eine Welle von Verhaftungen ein, um Ausländer in Lager zu internieren. Konnte sich der ISK zunächst noch gegen die Verfolgung wehren, war im Mai 1940 jeder Widerstand zwecklos. Die Frauen des ISK kamen in das südfranzösische Lager Gurs, konnten sich jedoch einige Wochen später mit gefälschten Papieren befreien. Daraufhin setzte eine Irrflucht durch Frankreich ein mit dem Ziel Montauban. Immer wieder kamen sie durch vorrückende Truppen in Gefahr. Sie erreichten Montauban im Juli und Nora Block sowie die politischen Frauen in ihrem Umkreis begannen sogleich mit der Betreuung von Flüchtlingen. Nora Block bekam die Leitung des Comité d’Assistance aux Refugés (CAR) übertragen. Sie konnte dabei vielen Flüchtlingen die Ausreise beispielsweise in die USA ermöglichen.

In Montauban trafen sich Nora Block und Hermann Platiel. Beide verliebten sich ineinander und an ihrem 47. Geburtstag heirateten die beiden, wurden jedoch nach einer Razzia getrennt und sahen sich erst 1945 in der Schweiz wieder, wohin Nora Platiel 1943 flüchtete. Hier nahm sie wieder die Arbeit als Flüchtlingsfürsorgerin auf, diesmal im Schweizerischen Arbeiterhilfswerk. Eine feste Stelle bekam sie erst 1946. Während der gesamten Zeit des Nationalsozialismus hat sich Nora Platiel nie in die Opferrolle hineinbegeben, sondern sich stets aktiv und impulsiv der Gestaltung ihrer bedrückenden Lebensumstände hingegeben. Sich immer wieder in die Arbeit zu stürzen, anderen Flüchtlingen zu helfen, stand dabei in ihrem Lebensmittelpunkt, nie der Kampf um die eigene Existenz. Nie ist sie ihrem eigenen Leid handlungsunfähig erlegen.

1946 kam auch Sohn Roger in die Schweiz, der die letzten Jahre in einem Internat in England verbracht hatte. Alle Familienmitglieder hatten bis dahin mehr Zeit getrennt als zusammengelebt. Die Platiels wuchsen nur mit sehr viel Geduld und Verständnis zusammen. Bis 1949 versuchten sie, sich eine neue Existenz in der Schweiz aufzubauen. Auch nach Frankreich hielten sie Kontakt, doch legten sich ihnen überall Steine in den Weg. Durch den Kontakt zu Erich Lewinski und Georg August Zinn, die zu dieser Zeit schon hohe Positionen im Nachkriegs-Hessen innehatten, erhielt Nora Platiel den Hinweis auf eine Stelle in Kassel und bewarb sich dort erfolgreich als Landgerichtsrätin. Die Platiels begannen nun ihr Familienleben in Kassel. Um in den Staatsdienst aufgenommen werden zu können, musste sie jedoch um ihre Wiedereinbürgerung kämpfen, da ihr die Staatsbürgerschaft vom Dritten Reichs aberkannt worden war. Noch schwieriger war der Schritt eine Wohnung in Kassel zu finden, und nur über Kontakte konnten die Platiels eine Zweizimmerwohnung beziehen. Hermann Platiel beteiligte sich an der Gründung der Kasseler Volksbühne und wurde später ihr Geschäftsführer. Roger Platiel führte seine Schulausbildung zu Ende und begann daraufhin seine künstlerische Ausbildung an der Werkakademie in Kassel.

Nora Platiel fand sich schnell in Kassel und in ihrem neuen Beruf als Landgerichtsrätin zurecht. Auch in der Kasseler SPD wurde sie sehr freudig empfangen. Elisabeth Selbert zog sich zu dieser Zeit enttäuscht von der Kasseler SPD zurück, die daraufhin eine Nachfolgerin mit Profil suchten. Nora Platiel war dabei wohl die richtige Kandidatin, wurde ihr doch ein herzlicheres und wärmeres Auftreten als Elisabeth Selbert attestiert. Ab 1950 wurde Nora Platiel der Kasseler Öffentlichkeit bekannt. Durch ihr gewerkschaftliches Engagement in der ÖTV hielt sie viele Reden auf Kundgebungen, war viele Jahre die Stammrednerin zum Internationalen Frauentag, und engagiert sie sich zunehmend im Bezirksfrauenausschuss Hessen-Nord. Sie galt als Expertin in Rechts- und Frauenfragen und wurde 1951 die erste Landgerichtsdirektorin. Ihr Hauptaufgabengebiet lag dabei in der Wiedergutmachungskammer. 1954 wagte sie den Schritt auf die Landtagsebene und ließ sich als Kandidatin aufstellen. Zweimal wurde Nora Platiel wiedergewählt und saß somit von 1954 bis 1966 im hessischen Landtag. Ihr Interessensgebiet lag dabei in der Rechts- und Kulturpolitik. 1962 kandidierte sie für das Amt der Landtagspräsidentin. Sie unterlag ihrem Mitbewerber Franz Fuchs mit einer Stimme, was wohl nicht ihrer Qualifikation geschuldet war, vielmehr scheinen Vorzüge darin gelegen zu haben, ein Mann zu sein, nicht-jüdischen Glaubens zu sein und keine Vergangenheit in einer Organisation wie dem ISK zu haben. Das Profil der selbstbewussten und intellektuellen Nora Platiel war von zu viel „Exotismus“ geprägt.

1960 wurde sie als erste Frau Fraktionsvorsitzende der hessischen SPD und hatte diese Position bis 1966 inne. 1966 beendete sie ihre Landtagsarbeit, blieb der Kasseler Kommunalpolitik jedoch weiterhin verbunden. Der aufkommenden Studentenbewegung stand die „Alt-Linke“ Nora Platiel sehr positiv gegenüber und veranstaltete für Studierende, Jusos und Junggewerkschaftler in ihrer Wohnung Diskussionszirkel und Schulungskurse. Auch im Alter blieb sie ein aktives Mitglied ihres Kasseler SPD-Ortsvereins. Noch als Achtzigjährige machte sie Hausbesuche bei SPD-Genossinnen und Genossen.

Für ihr umfassendes kulturelles und politisches Engagement wurde Nora Platiel mehrfach geehrt. Zu ihrem 70. Geburtstag erhielt sie 1966 die Goethe-Plakette, die höchste Auszeichnung des hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, die an Personen verliehen wird, die durch ihr Lebenswerk in einer besonderen Weise für die kulturelle Entwicklung in Hessen tätig waren. Nora Platiel war von 1961 bis 1969 Vorsitzende des Kasseler Kunstvereins und machte sich nicht nur durch diese Position in der Kulturszene einen Namen. Unter anderem organisierte sie auch Ausstellungen für ihren Sohn Roger. Schon als Landtagsabgeordnete hatte sie ihren Schwerpunkt auf die Kulturpolitik gelegt und hierbei immer wieder positiv auf die Haushaltspläne gewirkt, so dass Hessen in der Nachkriegszeit bald wieder auf eine umfangreiche kulturelle Infrastruktur verweisen konnte. Seit 1961 arbeitete sie an einer Ausstellung, die die Kunstströmungen in Israel widerspiegeln sollte. Diese Anstrengungen zur Ausstellung „Graphik und Zeichnungen israelischer Künstler“ wurden gekrönt durch die Überreichung einer Anerkennungsurkunde der Hebräischen Universität Jerusalem durch den Diplomaten Asher Ben-Natan. Die Ausstellung wurde im Beisein Ben-Natans und des hessischen Ministerpräsidenten Georg-August Zinn eröffnet. Die politische Bedeutung einer solchen Ausstellung, die ein Jahr nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und der BRD stattfand, sollte nicht zu niedrig veranschlagt werden. Nora Platiel wurde als „Medium des Verständnisses“ gewürdigt, man dankte ihr für die Unterstützung der „Ziele der Universit“ sowie ihrem bemerkenswerten Handeln „im Interesse Israels und des jüdischen Volkes und der Menschheit“. Schließlich folgte 1969 die Auszeichnung mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille, der höchsten politischen Auszeichnung des Landes Hessen.

Im Juni 1978 fuhren Nora und Hermann Platiel nach Paris, um von ihrem Sohn Abschied zu nehmen. Roger Platiel starb an einer Speicheldrüsenerkrankung. Dies war für Nora Platiel ein herber Verlust, von dem sie sich nicht mehr erholte. Sie beteiligte sich noch an der Retrospektive, die zu Ehren ihres Sohnes von den Staatlichen Kunstsammlungen Kassel initiiert wurde. Doch danach ging es ihr zunehmend schlechter. Von Roger Platiels Freundin Claire Bonnafé-Laurent verabschiedete sie sich mit den Worten: Die Welt ist doch wirklich schön. Vergiß das nie, wenn du an mich denkst. Nora Platiel starb am 6. September 1979 in Kassel.

Seit 1986 gibt es auf dem Kasseler Universitätsgelände die Nora-Platiel-Straße, womit die Stadt an ihr langjähriges und erfolgreiches Wirken für Kassel erinnert. Es fehlen jedoch Hinweise auf ihr umfassendes Lebenswerk, um die Erinnerung an ihr Engagement und ihre erfolgreiche Arbeit als Landgerichtsdirektorin in Kassel, ihrer SPD-Karriere und jahrelangen Landtagsarbeit wach zu halten. Wenn man auf das Leben und die Leistungen dieser ungewöhnlichen Frau zurückblickt, reicht es nicht aus, politische Ehrungen wie die Goethe-Plakette (1966) und die Wilhelm-Leuschner-Medaille (1969) zu sehen. Es muss vielmehr zu gleichen Teilen der überzeugten Sozialistin und engagierten Widerstandskämpferin gedacht werden.

Laura Schibbe

Zitierweise
„Platiel, Nora“, in: Hessische Biografie <https://www.lagis-hessen.de/pnd/118902288> (Stand: 15.4.2024)