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Hessische Biografie

Portrait

Otto Wilhelm Nathan Benjamin Wolfskehl
(1841–1907)

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Wolfskehl, Otto Wilhelm Nathan Benjamin [ID = 2162]

* 9.11.1841 Darmstadt, † 17.8.1907 Darmstadt, Begräbnisort: Darmstadt Alter Friedhof, jüdisch
Bankier, Politiker, Abgeordneter, Landtagspräsident
Biografischer Text

Einer der letzten, durchgängig hebräisch geschriebenen Einträge des Mohel-Buchs der Darmstädter Judengemeinde, das sich im Nachlass des Bankiers Heyum Wolfskehl erhalten hat, betrifft die Beschneidung seines Enkels Nathan Benjamin gen. Nathan Wolf am 17. November 1841.1 Nach dem von Bürgermeister Georg Friedrich Brust ausgefertigten Protokoll im Geburtsregister, das von der Geburtshelferin Dr. Charlotte Heidenreich von Siebold, der wohl ersten promovierten Frauenärztin Deutschlands, gegengezeichnet ist, hieß der am 9. November geborene Knabe Otto Wilhelm Wolfskehl, erster Sohn des Bürgers und Kaufmanns Carl Joseph Theodor Wolfskehl (1814–1863) und seiner Ehegattin Johanna geborene Kaulla aus Stuttgart (1820–1894), die väterlicherseits einer berühmten Hoffaktorenfamilie entstammte. Schon diese beiden Einträge spiegeln etwas von der Problematik des sich formierenden, weitgehend emanzipierten jüdischen Großbürgertums, dessen führende Vertreter in Darmstadt die Wolfskehls waren: das Nebeneinander des bürgerlichen und des in amtlichen Unterlagen nie genannten Synagogen-Namens, der Ersatz der herkömmlichen Hebamme aus der Gemeinde durch die fortschrittliche christliche Ärztin und das Wirken Heyum Wolfskehls, des mit Abstand reichsten Finanziers in der Stadt, als Mohel oder Beschneider der jüdischen Religionsgemeinde.

Die Wolfskehls, benannt nach der Herkunftsgemeinde Wolfskehlen im hessischen Ried, waren seit dem frühen 18. Jahrhundert in Darmstadt ansässig. Der Viehhändler Moses Wolfskehl hatte 1770 den Fleischlieferungskontrakt für die Darmstädter Garnison erhalten. Einer Familientradition zufolge, die dann allerdings erst Ottos Sohn, der Dichter Karl (1869–1948), wirkungsmächtig kultivierte, sollten sich die Wolfskehls gar auf die altehrwürdige Levitenfamilie der Calonymiden zurückleiten können: und damit auf eine der ältesten und angesehensten jüdischen Familien nicht nur Deutschlands, sondern Europas. Noch zur Karolingerzeit soll ein Sproß dieser schon früh in Griechenland, Oberitalien und der Provence nachzuweisenden Familie vom toskanischen Lucca nach Mainz ausgewandert sein; dort sei der Name Kalonymos im deutschen bzw. jiddischen Idiom zu Kallmann/Callmann mutiert. Dieser Name wiederum ist in Mainz seit dem hohen Mittelalter gut greifbar.

Indessen lassen sich die Spuren der Familie Wolfskehl methodisch verantwortbar erst in der frühen Neuzeit aufnehmen. Moses Wolfskehls 1776 geborener Enkel Heyum hatte als Kaufmannslehrling in Paris in den ersten Jahren der großen Revolution von 1789 vermutlich einiges von ihren modernen Ideen mit nach Deutschland zurückgebracht. Der Onkel Isaak Wolfskehl, der sich Isaak Darmstadt nannte, war Kaufmann im französischen Mainz.

Der junge Heyum Wolfskehl war schon kurz nach der Heirat mit Kehlchen Braunfels im Jahre 1798, die er laut Ehevertrag mit Ehegeschenken und Ehegürtel nach dem Verhältnis seines Vermögens ausgestattet hatte, aus dem vom Vater ererbten halben Haus in der Großen Ochsengasse in eines der hundert Jahre zuvor erbauten Häuser der Neuen Vorstadt umgezogen, das er aufstocken und umbauen ließ. Bald darauf wurde wohl auch der Baumgarten um den Bessunger Galgenberg gekauft, das Kernstück des heutigen Wolfskehlschen Gartens. Heyum Wolfskehls Steuerkapital stieg von 2000 Gulden im Jahre 1798 — sicher unterschätzt, da seine Frau allein 2400 Gulden in die Ehe brachte — auf 6280 im Jahre 1808. Vermutlich hat auch er an den Heereslieferungen, Tuchen und Uniformen für die kriegführenden Armeen verdient. Bei der Bürgeraufnahme 1818 wurde sein durch Fleiß und Tätigkeit erworbenes Vermögen bereits auf mindestens 50000 Gulden taxiert, wobei die Regierung zugleich sein rechtliches Geschäftsgebahren, seinen Einsatz für alle Maßnahmen zur Verbesserung des Judenwesens hervorhob. Im ersten Darmstädter Adreßbuch des Folgejahrs firmierte Heyum Wolfskehl noch als Tuch- oder Ellenwarenhändler, etwas später als Particulier, 1845 dann gemeinsam mit Sohn Carl als Banquier. Karls Ehe mit Hannele oder Johannette, der Tochter des Stuttgarter Hofbankiers Nathan Kaulla und Enkelin des Darmstädter Hoffaktors Hirsch Raphael, verknüpfte die Wolfskehls mit der Hofjuden-Tradition des 18. Jahrhunderts.

Otto Wolfskehl hatte nach der Reifeprüfung am Darmstädter Gymnasium im Sommersemester 1859 mit dem Jurastudium in Heidelberg begonnen, das er später in Paris fortsetzte. Der frühe Tod des Vaters im Sommer 1863 rief ihn nach Darmstadt zurück, wo er sich, in den ersten drei Jahren noch unter Aufsicht des Großvaters, unterstützt wohl auch vom kurz zuvor zum Hofbankier avancierten Onkel Moritz Wolfskehl, in das inzwischen recht ausgedehnte Bankgeschäft der Familie einarbeitete. Wohn- und Geschäftsadresse war nach wie vor die obere Rheinstraße Nr. 4, Sitz der Wolfskehl-Bank bis zu ihrer Aufgabe 1881. Der Junior-Chef suchte sich jedoch nach der Eheschließung mit Paula Simon, Tochter des mit seinem von den Preußen verjagten König nach Wien gezogenen hannoverschen Hofbankiers Israel Simon, Anfang Dezember 1868 ein eigenes Domizil und zog nach kurzfristigen Provisorien in das von den Erben des Generalleutnants Freiherr von Perglas erworbene Haus Kasinostr. 22.

Gestützt auf den Einfluß, den ihm der Name, die geschäftliche Position und das ererbte Vermögen gaben, hat sich Otto Wolfskehl von Anfang an auch im öffentlichen Leben Darmstadts aktiv engagiert. Bereits 1864 gründete er gemeinsam mit Kaufmann Wilhelm Schwab, Fabrikant Carl Merck, Hofbuchdrucker Ferdinand Wittich und Baumeister Christian Lauteschläger den von Erbprinzessin Alice und ihrem Sekretär Dr. Ernst Becker angeregten Bauverein für Arbeiterwohnungen. 1874 wurde er auf Vorschlag der Nationalliberalen zum Stadtverordneten, 1875 zum Landtagsabgeordneten für den 1. Darmstädter Wahlbezirk, gleichzeitig auch zum stellvertretenden Vorsitzenden der Handelskammer gewählt. Auf das 1881 übernommene Präsidentenamt der Kammer hat er nach der Aufgabe der Familienbank Heyum Wolfskehl & Sohn im gleichen Jahr wieder verzichtet.

Der erste wichtige Einsatz des jungen Abgeordneten Wolfskehl galt der durch Sparmaßnahmen in ihrem Bestand gefährdeten Polytechnischen Schule. Bereits am 26. November 1875, knapp zwei Monate nach Zusammentritt des 22. Landtags, brachten die beiden Darmstädter Abgeordneten Wolfskehl und Welcker einen Antrag ein, der angesichts der unzulänglichen Raumverhältnisse im Realschulgebäude am Kapellplatz die Herstellung eines Neubaus für die polytechnische Schule zu Darmstadt forderte, der von Stadt und Staat gemeinsam finanziert werden sollte. Wolfskehl flankierte den Antrag im Finanzausschuß der Stadtverordneten, dem er für volle zwei Jahrzehnte präsidieren sollte. Nachdem der zuständige Landtagsausschuß im Frühsommer nachdrücklich für eine Kürzung der Hochschulausgaben votiert hatte, nöthigenfalls selbst durch Aufhebung des Polytechnikum, kam es zu einer Grundsatzdebatte. Die sachkundige Rede Wolfskehls am 20. Juni 1876, die in der angegriffenen Hochschule eine der vorzüglichsten Quellen für die wirtschaftlich-technische Entwicklung des Landes sah, trug zweifellos zum positiven Ergebnis der Schlußabstimmung bei. Schon im Folgejahr wurde das Darmstädter Polytechnikum zur Technischen Hochschule, auch wenn die Raumfrage mit dem von der Stadt finanzierten Laborbau und dem nachfolgenden Auszug des Realgymnasiums nur provisorisch gelöst war. Auch an der Bewilligung der endgültigen Hochschul-Neubauten der TH zu Beginn der 1890er Jahre hatte Otto Wolfskehl wesentlichen Anteil.

Die Geschäftsaufgabe 1881 begründet der Nachruf im Jahresbericht der Stadt Darmstadt mit der Absicht Wolfskehls, künftig ganz im Dienste der Allgemeinheit leben und wirken zu können. Er hat dies auf den verschiedensten Gebieten getan, auch nachdem er Anfang 1897 nach einer unerfreulichen Wahlanfechtung durch die Antisemiten auf sein Mandat im Landtag verzichtet hatte, dessen Vizepräsident er seit 1885 gewesen war. Den von Großherzog Ernst Ludwig angebotenen Finanzminister-Posten hat er, wie Ernst Ludwig selbst später Frau Johanna Hirth-Preetorius erzählte, mit den Worten Ein Jud Süß war genug zurückgewiesen, doch traf er in den Folgejahren fast täglich mit dem 1898 zum Regierungschef berufenen Staatsminister Carl Rothe, einem persönlichen Freund aus gemeinsamer Schulzeit, zusammen, um die anstehenden Probleme, vor allem der Finanz- und Wirtschaftspolitik, zu besprechen. Der hessisch-preußische Eisenbahnvertrag von 1897 war zum Teil Wolfskehls Werk. Noch in die letzten Lebensjahre fallen sein Einsatz für die Neuerrichtung des 1902 eingeweihten Städtischen Gaswerks und für die im Folgejahr begründete Hessische Landeshypothekenbank, die ihn zum Vorsitzenden ihres Aufsichtsrats berief. Der markante Neubau der Bank am Paulusplatz, heute Kirchenleitung und Verwaltung der EKHN, wurde im Todesjahr Wolfskehls fertiggestellt.

Neben dem wirtschaftlichen stand das soziale — Wolfskehl war eines der Gründungsmitglieder der Starkenburg-Loge des B'nai-B'rith-Ordens —, stand aber auch und vor allem das künstlerisch-musikalische Engagement, vielleicht noch verstärkt seit der zweiten Heirat mit der Pianistin und Kammervirtuosin Lilli Schulz im Jahre 1878. Paula Wolfskehl, die Mutter der in den Jahren 1869–1874 geborenen Kinder Karl, Margarethe und Eduard, war, als der jüngste Sohn eben anderthalb Jahre alt war, erst 27jährig verstorben. Gemeinsame künstlerische Interessen knüpften freundschaftliche Beziehungen auch zum großherzoglichen Hof, zu Großherzog Ernst Ludwig und seinen Schwestern, auch zur jungen Großherzogin Eleonore, in deren Nachlaß sich zwei Briefe Lilli Wolfskehls erhalten haben. Kurz vor der Jahrhundertwende entstand die von Gustav Jacobi errichtete Wolfskehl-Villa im durch Hinzukauf erweiterten Gartengrundstück Heyum Wolfskehls zwischen Herdweg und Karlstraße, das in den Folgejahren parkartig angelegt wurde. Das große, noch in den Bauformen der Gründerzeit konzipierte Haus, das den Bomben des Jahres 1944 zum Opfer fiel, war noch über den Tod Otto Wolfskehls hinaus ein Treffpunkt künstlerisch-geselligen Lebens.

Die vielfältigen Stiftungen Otto Wolfskehls wie auch seine zahlreichen Ehrenämter können gar nicht alle einzeln aufgeführt werden. Die zum 25jährigen Stadtverordneten-Jubiläum gestifteten 5000 Mark zum Ankauf einer Orgel im Städtischen Saalbau wurden an anderer Stelle genannt. Er hat auch zum Bau der evangelischen Johanniskirche im damaligen Blumenthal-Viertel beigetragen, zu deren Finanzierung seine Frau konzertierte. Ein Lehrerinnen- und ein Behindertenheim wurden mit Wolfskehlschen Stiftungsgeldern errichtet. Das letzte öffentliche Auftreten Otto Wolfskehls war der Festakt zum 75jährigen Bestehen des Darmstädter Musikvereins am 25. Februar 1907, dem er, selbst talentierter Geiger, seit 1889 vorgestanden hatte. Der Sohn Eduard, als Regierungsbaumeister für die technischen Anlagen des neuen Darmstädter Hauptbahnhofs verantwortlich, hat die Rede als Erinnerungsgabe 1924 drucken lassen. Der damalige Dirigent des Musikvereins, Hofkapellmeister Willem de Haan, mit der Familie seit langem freundschaftlich verbunden, war seit 1898 Schwiegervater des Sohnes Karl Wolfskehl, der mit seiner Frau als Schriftsteller in München lebte.

In der Nacht vom 16. zum 17. August 1907 ist Otto Wolfskehl gestorben. Mit ihm hat Darmstadt einen seiner besten Bürger verloren, schrieb das Darmstädter Tagblatt. Einer der besten Männer, die in dem politischen Leben Deutschlands und besonders unseres engeren Vaterlandes eine bedeutende, eine führende Stellung eingenommen haben, ist dahingegangen, hieß es im Täglichen Anzeiger. Bei allen großen Fragen, politischer oder sonstiger Art, so der offizielle Nachruf des Oberbürgermeisters, stand Wolfskehl im Vordertreffen; stets zeichnete ihn seine vornehme Sachlichkeit und sein stets wohlwollendes, versöhnliches und Gegensätze ausgleichendes Verhalten aus. Dank seiner reichen Kenntnis und seines praktischen und zielbewußten Verhältnisses war seine Mitarbeit in den parlamentarischen Gremien immer erfolgreich. Die Stadt wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

Das tat sie, wenn überhaupt, dann zunächst doch nicht allzu lange. Der Name Wolfskehl lebt allerdings bis heute weithin fort im dichterischen Werk des Sohnes Karl, der 1948 im neuseeländischen Exil verstarb. Dagegen nahm es fast nur noch eine kleine wissenschaftliche Fachgemeinde wahr, als 1997 endlich jener große Preis verliehen werden konnte, den Ottos Bruder, der Mediziner und Mathematiker Paul Wolfskehl (1856–1906), testamentarisch mit der stolzen Stiftungssumme von 100000 Goldmark einst demjenigen zugedacht hatte, der den Beweis des großen Fermatschen Satzes … führen würde, eine der zentralen Herausforderungen der Mathematikgeschichte.

In Darmstadt gibt es eine Wolfskehlstraße, vor allem aber den Wolfskehlschen Garten, der mit der kriegszerstörten Villa 1954 an die Stadt verkauft und zum öffentlichen Park ausgestaltet wurde. Daß die Replik der 1864 geschaffenen Darmstadtia des jüngeren Johann Baptist Scholl hier aufgestellt wurde, ist eine vielleicht unbewußte Huldigung der Stadt für Otto Wolfskehl, der bewußter als viele andere Darmstädter Bürger gewesen ist.

In einem weiter ausgreifenden Sinn beleuchtet die Familiengeschichte der Wolfskehls alle wichtigen Etappen der deutschen Juden auf ihrem Weg ins Bürgertum, dessen idealtypische Ausprägung um 1900 sich besonders ausdrucksstark in den Bildungsambitionen der jüdischen Bürger nach ihrer politischen und rechtlichen Emanzipation spiegelt. Dafür standen paradigmatisch das organisatorisch-fördernde Engagement, der gesellschaftliche Gestaltungswille und das großzügige Mäzenatentum Otto Wolfskehls, der Darmstadts Weg in die Moderne maßgeblich mitzubauen verstand.

Es mussten, über alle historischen Brüche und Verwerfungen hinweg, allerdings über hundert Jahre nach dem Tod ihres großen Repräsentanten und Gönners vergehen, ehe sich Stadt und Universität dieser Zusammenhänge bewußt genug waren, um sie auch öffentlich zu dokumentieren: 2014 taufte die Technische Universität Darmstadt ihr neues Gästehaus auf der Lichtwiese Otto Wolfskehl-Haus, und noch im Herbst gleichen Jahres enthüllte der Oberbürgermeister am Eingang zum Wolfskehlschen Garten im Bereich Karl-/Klappacher Straße eine Gedenktafel zu Ehren der Familie Wolfskehl.

Eckhart G. Franz (†) / Volkhard Huth


  1. Die Biographie stammt aus: Thomas Lange (Hg.), Juden als Darmstädter Bürger, 2. Auflage, [2019 im Druck]. Der Text von Eckhart G. Franz aus der ersten Auflage wurde von Volkhard Huth überarbeitet.

Literatur