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Treffen des Bundeskanzlers Willy Brandt mit Willi Stoph in Kassel, 21. Mai 1970

Wie zwischen dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Willi Stoph (1914–1999; SED), und Bundeskanzler Willy Brandt (1913–1992, SPD) auf ihrem ersten Treffen in Erfurt am 19. März 1970 vereinbart, findet das zweite Treffen der beiden Regierungschefs in Kassel statt. Schon im Vorfeld dieses Treffens gibt es mehrere vorbereitende Verhandlungen und Gespräche sowie eine rege öffentliche Diskussion in der westdeutschen Öffentlichkeit, zum Beispiel über die Frage einer möglichen strafrechtlichen Verfolgung Stophs beim Betreten der Bundesrepublik. Erst mit der Aufhebung des Freistellungsgesetzes von 1966 (von der DDR als „Handschellengesetz“ tituliert) durch den Deutschen Bundestag und den Deutschen Bundesrat am 7. bzw. 15. Mai sind die letzten Hürden für den Gegenbesuch des DDR-Politikers beiseite geräumt.

Willi Stoph überquert am Morgen des 21. Mai mit dem Sonderzug die innerdeutsche Grenze bei Gerstungen und wird auf dem Bahnhof in Bebra von Staatssekretär Conrad Ahlers (1922–1980; SPD) und Ministerialrat Ulrich Sahm (1917–2005) begrüßt. Eine Gruppe von Anhängern der DKP zeigt auf dem Bahnhof Plakate mit Parolen wie etwa: „Willi Stoph im Hessenland, die DDR wird anerkannt!“ und lässt den Vorsitzenden des Ministerrats hochleben. Stoph gibt auf dem Bahnhof eine erste öffentliche Erklärung ab, die er später in Kassel wiederholt. Um 9:30 Uhr trifft Willi Stoph mit dem Sonderzug in Kassel ein, wo er von Bundeskanzler Willy Brandt begrüßt wird. Vom Hauptbahnhof fahren die beiden Regierungschefs zu ihrem Tagungsort, dem Hotel Wilhelmshöhe. Vor dem Eintreffen der Delegationen kommt es dort zu einem Zwischenfall, als drei junge Männer aus Norddeutschland, die Söhne von DDR-Flüchtlingen sind, die Flagge der DDR von einem Flaggenmast zerren und zerreißen. Sie werden von der Polizei festgenommen.

Am Konferenzort demonstrieren im Tagesverlauf rechtsextreme und linke Gruppen. Es werden Parolen wie „Die Mauer muss weg!“, „Gegen Verräter am deutschen Osten!“ sowie „DDR anerkennen!“ gezeigt. Beobachter schätzen die Zahl der rechtsextremen Demonstranten auf 200, die der linken Demonstranten auf 500. Eine für 15 Uhr geplante Niederlegung eines Kranzes am Denk- und Mahnmal für die Opfer des Faschismus in der Kasseler Weinbergstraße durch Stoph in Begleitung des Bundeskanzlers und des hessischen Ministerpräsidenten Albert Osswald (1919–1996; SPD) wird wegen der unübersichtlichen Sicherheitssituation von Stoph zunächst abgesagt. Nach einem Vieraugen-Gespräch zwischen Stoph und Brandt wird die Kranzniederlegung jedoch am Abend nachgeholt.

Die eigentlichen Gespräche beginnen mit einer unerwarteten, längeren Protestnote Stophs, in der er sich gegen Gesetze und Maßnahmen ausspricht, die in der Bundesrepublik gastierende DDR-Verantwortliche mit Strafverfolgung bedrohen. Danach gibt der Bundeskanzler eine längere Erklärung ab, auf die Stoph ebenso ausführlich antwortet. Nach einem Gespräch der beiden Regierungschefs unter vier Augen ziehen sich die Delegationen zum Mittagessen zurück. Am Nachmittag werden die Erklärung und Gespräche fortgesetzt, ohne dass man sich auf eine Abschlusserklärung verständigen kann. Beide Seiten stimmen jedoch darin überein, nach den beiden Treffen in Erfurt und Kassel eine gewisse „Denkpause“ in den Gesprächen eintreten zu lassen. Nach den Schlussreden beider Regierungschefs und der Kranzniederlegung fährt Stoph mit seiner Delegation über Gerstungen zurück in die DDR.
(OV)

Belege
Empfohlene Zitierweise
„Treffen des Bundeskanzlers Willy Brandt mit Willi Stoph in Kassel, 21. Mai 1970“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/1279> (Stand: 14.1.2022)
Ereignisse im April 1970 | Mai 1970 | Juni 1970
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