Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918

Abschnitt 5: Korrupte Kommissare, Fürsorge für mittellose Deutsche

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Die Einwohner waren sehr freundlich zu uns. Wir gingen nun den ganzen Tag im Ort spazieren, wer nicht genügend Geld hatte, arbeitete bei den Bauern. Unser Essen kochten wir uns selber; die Lebensmittel waren sehr billig. Ein Pfund Fleisch kostete 14 Pfg., 100 Eier M 1.40, ein Zentner Kartoffeln M 1.80 bis M 2.-, Butter ein Pfund 40 Pfg. An einem Tage, als wir uns auch meldeten, verlangte der Kommissar von jedem Mann Geld für das Rote Kreuz, welches sich zweimal wiederholte; wie sich nun später herausstellte, hatte er das Geld speziell zum Ankauf eines Klaviers für seine Frau gesammelt. Ein Kapellmeister, welcher mit mir zusammen wohnte, musste Klavierlehrer spielen. Alle Abende musste er hin um Unterricht zu erteilen, welcher sich bis in den frühen Morgen erstreckte. Als eines Morgens mein Kamerad nach Hause kam, und wir nicht mehr einschlafen konnten, erzählte er mir im Vertrauen, dass er heute früh, als er sich zufällig in der Küche des Kommissars befand, seinen Streichriemen1 gesehen habe. (Herr Kapellmeister Neumann befand sich auch unter den Bestohlenen; der Wert der gestohlenen Sachen - meistens Noten - belief sich auf ca. Rbl. 800.-). Ich meinte , es wäre das beste gewesen, wenn er sofort zu Kommissar, mit dem er ja auf freundschaftlichen Fusse stand, gegangen wäre und ihn gefragt hätte, wie er zu seinem Streichriemen gekommen sei. Nach einigen Tagen meldete ich die ganze Diebstahlsgeschichte dem Gouverneur, welcher auch sofort seinen Gehilfen nach hier sandte.

Es wurden nicht nur allein unsere gestohlenen Sachen vorgefunden, sondern auch grosse Unterschlagungen nachgewiesen, welche der nobele Herr Kommissar an den armen Bauern begangen hatte. Auf Befehl des Isprawnik2 wurde der Kommissar sofort verhaftet, und nach Orenburg geschafft; was mit ihm dorten geschah, weiss ich nicht. Da nun unterdessen unter den Deutschen grosse Not herrschte, denn die meisten Leute waren jetzt ohne Geld, veranstaltete ich unter den Herren, welche über Mittel verfügten, eine Sammlung und linderte somit die erste Not. Ich setzte mich nun mit dem evangel. [S. 8] Pastor Herrn Stenkel in Orenburg in Verbindung, welcher mir auch sofort 1000 Rubel zur Verfügung stellte. Nun konnte ich wieder eine Linderung schaffen, zumal mir Herr Pastor Stenkel versicherte, weiteres Geld zur Verfügung zu stellen. Den kleinen Ueberschuss benutzte ich zum Ankauf von Kleidern für solche, welche ganz zerrissene Kleider hatten. Ich hatte nun für 435 Mann zu sorgen, wovon 300 Mann unterstützungsbedürftig waren. Den ganzen Tag über war ich nun beschäftigt, ich ging im Ort herum, verschaffte den Leuten Arbeit, dann kamen wieder Russen aus den nahe liegenden Ortschaften, und wollten Arbeiter haben. Am 1. Februar 1915 wurde mir vom Amerikanischen Consulat Moskau ein grösserer Betrag angewiesen, und so hatte ich nun Geld zur Verfügung. Ich zahlte nun monatlich Rbl. 10.— Unterstützung aus (mit 8-10 Rubel konnte man monatlich leben) zahlte Arzt und Apotheke, und kleidete, wer bedürftig war, ein.


  1. Lederstreifen zum Schärfen des Rasiermessers.
  2. Ein regionaler Beamter, Polizeichef.

Personen: Heep, August · Neumann, Kapellmeister · Stenkel, Pfarrer
Orte: Orenburg · Moskau
Sachbegriffe: Bauern · Kommissare · Rotes Kreuz · Korruption · Streichriemen · Gouverneure · Diebstähle · Isprawnik · Russen · Konsulate · Ärzte · Apotheker
Empfohlene Zitierweise: „Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918, Abschnitt 5: Korrupte Kommissare, Fürsorge für mittellose Deutsche“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/122-5> (aufgerufen am 18.04.2024)