Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Topografie des Nationalsozialismus in Hessen

Herborn, Landesheil- und Pflegeanstalt

Herborn, Gemeinde Herborn, Lahn-Dill-Kreis | Historisches Ortslexikon
Klassifikation | Nutzungsgeschichte | Indizes | Nachweise | Abbildungen | Zitierweise
Klassifikation

Kategorie:

Verfolgung

Subkategorie:

Euthanasie 

Nutzungsgeschichte

Beschreibung:

Die Landesheilanstalt Herborn nahm ab 1934 eine führende Rolle in der Durchführung von Zwangssterilisationen im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) ein. Ab dem 18.12.1934 erfolgten Zwangssterilisationen an Patientinnen und Patienten aus den Landesheilanstalten des Bezirksverbandes. Dabei erfolgten deutlich mehr Eingriffe als am Eichberg. Zurückführen lässt sich die Installation in Herborn auf die geografisch günstigere Lage im Norden des Regierungsbezirks durch die räumliche Nähe zu Hadamar und Weilmünster. Außerdem standen mehr Räume für die Operationsabteilung zur Verfügung. Für die Inbetriebnahme wurde eigens dafür zusätzliches Stationspersonal eingestellt.

Zwischen 18.12.1934 und 26.8.1939 erfolgten mindestens 1.184 Zwangssterilisationen (Zum Vergleich: am Eichberg 178). Es handelte sich um 561 Frauen (47 davon im Kindes- und Jugendalter) und 623 Männer (95 davon im Kindes- und Jugendalter) im Alter zwischen 11 und 65 Jahren. 733 der Opfer kamen aus Hessen, 372 davon aus dem Kreis Frankfurt am Main. Die meisten Patientinnen und Patienten stammten aus den Anstalten Hadamar (344), aus Herborn selbst (264), Weilmünster (250), Idstein (Kalmenhof) (222) und Scheuern (68).

Die Durchführung der Zwangseingriffe erfolgte auf Grundlage des am 14.7.1933 erlassenen GzVeN. An 318 Männer und 279 Frauen erfolgte die Zwangssterilisation aufgrund der Diagnose eines „Schwachsinns“. An weiteren 153 Patientinnen und 138 Patienten, denen eine Schizophrenie diagnostiziert worden ist, 38 Epileptikerinnen und 35 Epileptikern, 28 Frauen und 20 Männer, die „manisch depressives“ Verhalten zeigten und 94 Männer und 4 Frauen mit schwerem Alkoholkonsums wurde dieser Zwangseingriff vorgenommen. Mit Kriegsbeginn endete die systematische, großangelegte Zwangssterilisation nahezu.

Ärztlicher Direktor der Anstalt war Dr. Paul Schiese. Er war als Mitglied des Frankfurter Erbgesundheitsgerichts in oberster Instanz an den Sterilisationsverfahren des Regierungsbezirks beteiligt. Ab Mitte der 1930er Jahre forcierte der Bezirksverband die Sparpolitik, die sich in allen Anstalten des Landes niederschlug. Auswirkungen von Verknappung von Lebensmitteln, Sachmittelkürzungen und Überbelegungen zeigen sich auch in Herborn. 1940 befanden sich mehr als 1.600 Patientinnen und Patienten in der Einrichtung und die Sterberate stieg von 6,8 % (1939) auf 11,6 % (1940) an. Überliefert ist eine Zeugenaussage, dass die Mahlzeiten hauptsächlich aus Brot, verdorbenen Kartoffeln oder Wassersuppe bestanden.

Im Sommer 1940 wurde die Anstaltsleitung aufgefordert, sämtliche Patientinnen und Patienten durch das Meldebogenverfahren zu erfassen und bis zum 25.7.1940 an die Tiergartenstraße 4 in Berlin zu melden. Am 25.9.1940 wurden die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner der Anstalt nach Gießen und von dort aus am 1.10.1940 die Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel gebracht und dort ermordet. Zum Jahreswechsel 1940/1941 erfolgte durch Fritz Bernotat die Mitteilung, dass Herborn fortan als "Zwischenanstalt" fungieren wird. Schiese informierte daraufhin das Personal der Einrichtung und wies die abgebenden Ursprungsanstalten an, die Namen der Patientinnen und Patienten mit Tinte zwischen die Schulterblätter zu schreiben und eine mit Schreibmaschine verfasse Liste mit den vollständigen Namen der ankommenden Personen in drei- bis vierfacher Ausfertigung den Transporten mitzugeben.

Ehe die LHA Herborn ihrer Funktion als „Zwischenanstalt“ nachkam, wurden zwischen dem 24.1.1941 und 24.3.1941 in neun Gekrat-Transporten 652 Stammpatientinnen und Stammpatienten nach Hadamar verlegt und ermordet. Weitere 122 folgten im weiteren Verlauf mit in Herborn aufgenommenen Zwischenanstaltspatientinnen und -patienten.

Ab dem 9.4.1941 erfolgten Transporte in die „Zwischenanstalt“ Herborn. So gelangten 130 Frauen aus der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg hierher. Gefolgt von 121 Männern am 23.4.1941 und weiteren 100 Frauen und zehn Männern am 30.4.1941. Sechs Frauen und ein Mann verstarben in Herborn, ehe im Mai der Transport von 347 der 361 Lüneburger Patientinnen und Patienten nach Hadamar erfolgte. Am 29.5.1941, ein Tag nach dem letzten Transport der Opfer aus Lüneburg, wurden 155 Frauen und zehn Männer aus der Landesheilanstalt Merxhausen nach Herborn gebracht. Am 19. und 20.6.1941 erfolgte ihre Verlegung nach und Ermordung in Hadamar. Weitere 29 Männer kamen am 11.6.1941 aus der Landesheil- und Pflegeanstalt Marburg, aus den westfälischen Anstalten Aplerbeck und Warstein kamen am 27.6.1941 und 1.7.1941 weitere 330 Frauen und Männer nach Herborn. Der Transport in die Tötungsanstalt Hadamar erfolgte üblicherweise drei bis vier Wochen später. In Der Zeit vom 9.4.1941 bis 1.7.1941 erreichen 855 Patientinnen und Patienten aus den fünf Anstalten des Regierungsbezirks Herborn. 18 verstarben vor Ort, 858 starben in Hadamar und neun wurden in Herborn zurückgestellt. 32 Herborner (28 Stammpatienten) und 4 Herbornerinnen (4 Stammpatientinnen) wurden zudem in Hadamar aufgrund ihrer Arbeitsfähigkeit zurückgestellt und in die „Zwischenanstalten“ Eichberg und Weilmünster gebracht. Genutzt wurden dafür die leeren Busse der Gekrat auf den Rückwegen in die jeweiligen Einrichtungen. Eine Rettung bedeutete eine solche Rückstellung aber nur in den wenigsten Fällen. Zum Teil wurden sie ein zweites Mal nach Hadamar und damit in den Tod geschickt. Andere verstarben aufgrund der katastrophalen Bedingungen während der zweiten Mordphase in den Anstalten durch Nahrungsmittelreduzierung oder durch Medikamentengabe.

Die Herborner Bevölkerung war in Kenntnis über die Vorgänge der systematischen Tötungen. Man sprach in Herborn darüber, „daß die Anstaltsinsassen, die in den Omnibussen abtransportiert wurden, alle in den ‚Backofen‘ kämen“.

Die Funktion als Landesheil- und Pflegeanstalt und als „Zwischenanstalt“ verlor Herborn bereits einen Monat vor dem Ende der Gasmordaktion in Hadamar. Die Funktion als Landesheil- und Pflegeanstalt und als „Zwischenanstalt“ verlor Herborn bereits einen Monat vor dem Ende der Gasmordaktion in Hadamar. Die Funktion als Landesheil- und Pflegeanstalt und als „Zwischenanstalt“ verlor Herborn bereits einen Monat vor dem Ende der Gasmordaktion in Hadamar. Die Wehrmacht meldete der zuständigen Bedarfsstelle, der Wehrkreisverwaltung IX, im Sommer 1941 Bedarf zur Nutzung des Anstaltsgeländes als Lazarett an. Am 23.7.1941 erfolgte die Verdrängung von 504 Patientinnen und Patienten in einer Großaktion. 250 bis 300 arbeitsfähige Menschen blieben zurück und waren gezwungen das Lazarett zu versorgen.

Dass es keine Anzeichen für Medikamentenmord in Herborn für die zweite Mordphase gibt, könnte an der Durchführung der Funktionsänderung der Anstalt liegen.

Nutzungsanfang (früheste Erwähnung):

1934

Nutzungsende (späteste Erwähnung):

August 1941

Weitere Nutzungen des Objekts:

Nutzung vor NS-Zeit:

Die Landesheil- und Pflegeanstalt Herborn wurde 1911 gegründet.

Nutzung nach NS-Zeit:

Seit 1946 wurde die Landesheil- und Pflegeanstalt wieder als psychiatrische Versorgungseinrichtung genutzt. Heute betreibt Vitos gGmbH dort ein großes psychiatrisches und psychosomatisches Gesundheitszentrum im Lahn-Dill-Kreis.

Indizes

Orte:

Herborn

Sachbegriffe:

Euthanasie · Gesundheitswesen · Verfolgung · Zwangssterilisation · Zwischenanstalten

Nachweise

Literatur:

Gedruckte Quellen:

Weblinks:

Fachtagung: "'Zwischenanstalten'. Ein besonderer Typus Anstalt im NS"? (15.11.2023)

Landesamt für Denkmalpflege: Landes-Heil- und Pflegeanstalt Herborn (17.5.2023)

Zitierweise
„Herborn, Landesheil- und Pflegeanstalt“, in: Topographie des Nationalsozialismus in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/nstopo/id/94> (Stand: 18.2.2024)