Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Detailansicht

Der Plan einer Regionalstadt Frankfurt nach dem Konzept von Walter Möller, 1971

Literatur

Gebietsreform Buchsymbol · Kommunalreform Buchsymbol · Raumplanung Buchsymbol · Siedlungswesen Buchsymbol

Gebietsreform

  1. Überblick
  2. Sozialkultureller Wandel und Ausstrahlung des städtischen Raums als Hintergrund
  3. Hermann Brill und die Auflösung von „Zwerggemeinden“
  4. Forderungen der Opposition im Hessischen Landtag als Anstoß
  5. Beschluss einer umfassenden kommunalen Gebietsreform 1970
  6. Umsetzung in den 1970er-Jahren
  7. „Stadt Lahn“

1. Überblick

Eine Verwaltungsreform als Veränderung der organisatorischen, personellen und verfahrensbezogenen Voraussetzungen öffentlicher Verwaltungen und Zusammenhänge ist seit Gründung Hessens ein fester Bestandteil der Landespolitik. Der laufende, periodisch verstärkte Umbau der öffentlichen Verwaltung und der mit ihr verbundenen Strukturen setzt sich das Ziel, leistungsfähige Verwaltungseinheiten und klare verwaltungsmäßige Zuständigkeiten zu schaffen. Beabsichtigt wird damit eine Vereinfachung der Verwaltung und eine Steigerung ihrer Effizienz sowie die daraus resultierende Verbesserung der Lebensvoraussetzungen der Bürgerinnen und Bürger.

Die Verwaltungsreform erfolgte in Hessen in mehreren Etappen und erstreckte sich über mehrere Legislaturperioden. Wesentlicher Bestandteil der lange geplanten, faktisch aber v. a. während der 1970er-Jahre in Hessen und in anderen Ländern der alten Bundesrepublik durchgeführten Reformen war die kommunale Gebietsreform. Ihr Ziel war es, durch die Schaffung größerer Verwaltungseinheiten die Leistungsfähigkeit der Kommunen und Landkreise zu erhöhen und zeitgemäßen Anforderungen anzupassen. Dazu wurden kleinere Kommunen zugunsten größerer Verwaltungseinheiten aufgelöst.

Zeitpunkt und Umfang der im Zuge der Gebietsreform verwirklichten Veränderungen ergaben sich aus den Zwängen der dafür vorgeschriebenen legislativen Prozesse und den sich daraus ergebenden öffentlichen Debatten. Die verstärkt ab Mitte der 1960er-Jahre einsetzte Verwissenschaftlichung der Raumplanung bildete eine wichtige Voraussetzung für den Entwurf ihrer verwaltungsbezogenen Zielsetzungen. Diese bestanden im Kern in einer Erhöhung der Leistungsfähigkeit und Verwaltungskraft der Kommunen, in der Stärkung ihrer Autonomie sowie in der Steigerung ihrer Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Effektivität.

Wissenschaftliche Abhandlungen und Gutachten, die zentrale Bedeutung für die Planung der Gebietsreform auch in Hessen erlangten, stammten u. a. aus der Feder des Verwaltungswissenschaftlers Frido Wagener (1926–1985; von 1976 bis 1984 geschäftsführender Direktor des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung in Speyer)1 und des Staats- und Verfassungsrechtlers Werner Weber (1904–1976; Leiter der Sachverständigenkommission für die Verwaltungs- und Gebietsreform in Niedersachsen)2.

Die Verwirklichung des mit der Gebietsreform angestrebten Verwaltungsumbaus war in Hessen von 1970 bis 1974 ein wichtiges Projekt der sozialliberalen Regierung unter Albert Osswald und politisch hoch umstritten. Eines der bis heute bekanntesten Beispiele für die kommunale Gebietsreform in Hessen ist die Schaffung der Stadt Lahn, die einen (über-) ambitionierten Versuch darstellte, durch administrative Zusammenlegungen künstlich eine Großgemeinde als starkes Oberzentrum zwischen Frankfurt am Main und Kassel zu etablieren. Die Stadt Lahn scheiterte nach nur 31-monatiger Existenz im Juli 1979 am Widerstand ihrer Bürger.

2. Sozialkultureller Wandel und Ausstrahlung des städtischen Raums als Hintergrund

Von eminenter Bedeutung für die Planung und Durchführung der kommunalen Gebietsreform in Hessen war, dass „auf dem flachen Lande“ die „ehedem sich selbst genügende, weitgehend autarke Dorfgemeinschaft ihre Existenz verloren“ hatte und sich mit einem stark wachsendem Strom äußerer Einflüsse konfrontiert sah.3

Unter dem Einfluss einer sich immer mehr spezialisierten Arbeitsteilung und des Einzugs moderner Technik in die dörflichen Haushalte vollzog sich während der 1950er- und 1960er-Jahre in den Dorfgemeinden ein tiefgreifender sozialökonomischer Wandel, der durch den Willen der dörflichen Bevölkerung getragen wurde, das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gefälle im Verhältnis zur Großstadt auszugleichen. Pendler, die täglich ihren Wohnsitz in ländlich gelegenen Gemeinden verließen, um in den städtischen Zentren zu arbeiten, vermittelten neue Einflüsse und Formen des Stadtlebens. Damit verband sich nicht zuletzt eine wachsende Nachfrage der auf dem Dorf lebenden Konsumenten, die die im urbanen Umfeld etablierten Strukturen und Prinzipien der Marktwirtschaft auch in entlegene ländliche Gebiete trug. Gleichheits- und Wohlstandsdenken verstärkten die Forderung „nach besseren Wohnungs- und Betriebsverhältnissen, nach verkehrsgerechten Straßen und Wegen, nach neuzeitlichen Bildungseinrichtungen, nach gesundheitlicher und sozialer Betreuung für junge und alte Menschen, nach Spiel- und Sportplätzen“, oft aber auch „nach Erfüllung primitivster Daseinsbedürfnisse sanitärer und hygienischer Art“. Alle diese Bedürfnisse und Erfordernisse konzentrierten sich während der ersten Nachkriegsjahrzehnte in stark zunehmendem Maß auf den Raum kleiner und kleinster Gemeinden. Die Lokalverwaltung sah sich ihnen in der Regel hilflos gegenüber. Einnahmen und Entscheidungsspielräume kleiner Kommunen standen in einem eklatanten Missverhältnis zu ihrem Bedarf. Beihilfen der Landkreise und des Staates erwiesen sich demgegenüber als unzureichender Notbehelf, sodass sich „die Forderung nach der leistungsfähigen Gemeinde mit aller Schärfe“ stellte.4

Vor diesem Hintergrund wurde spätestens im Verlauf der 1960er-Jahre überdeutlich, dass wenige hundert Einwohner zählende Gemeinden kaum in der Lage waren, die mit dem sozial-strukturellen und wirtschaftlichen Wandel an sie gestellten Anforderungen finanziell, administrativ und kommunal-infrastrukturbezogen zu bewältigen. Dazu erläuterte z. B. der aus Fritzlar stammende frühere hessische Landtagsabgeordnete Karl Heinz Ernst (geb. 1942)5:

„Vor der Verwaltungsreform gab es in Hessen rund 2.700 Gemeinden, die überwiegend ehrenamtlich verwaltet wurden. Mit diesen Verwaltungsstrukturen konnte man den Erfordernissen eines hochtechnisierten Industriestaates und eines modernen Leistungsstaates nicht gerecht werden. Zunehmende Komplexität aller gesellschaftlichen und staatlichen Bereiche machten eine professionelle Verwaltungsstruktur auf der gemeindlichen Ebene erforderlich. Die Konnte nur aufgebaut werden, wenn man die Gemeindeeben neu ordnen und Größenordnungen schaffen würde, die dann über die notwendige Verwaltungskraft verfügten.“6

3. Hermann Brill und die Auflösung von „Zwerggemeinden“

Erste Bestrebungen zur kommunalen Verwaltungsneugliederung und Gebietsreform in Hessen nahmen bereits gut eineinhalb Jahre nach Gründung des Landes konkrete Gestalt an. Am 31. März 1947 erfolgte die Einsetzung einer Kabinetts-Kommission unter dem Vorsitz des Staatsrechtswissenschaftlers, SPD-Politikers und ehemaligen Widerstandkämpfers Hermann Brill (1895–1959). Die Kommission erarbeitete ein Gutachten, das die Auflösung von sogenannten „Zwerggemeinden“ mit weniger als 300 Einwohnern und eine Reduzierung der Zahl der hessischen Landkreise von 39 auf 31 anregte. Diese Vorschläge wurden zum damaligen Zeitpunkt jedoch zunächst nicht umgesetzt.

4. Forderungen der Opposition im Hessischen Landtag als Anstoß

Den ersten Anstoß zu der ab dem Jahr 1972 erfolgten umfassenden kommunalen Gebietsreform in Hessen gab ein von der CDU-Fraktion 1965 im hessischen Landtag eingebrachter Antrag, der die Auflösung der drei hessischen Regierungsbezirke und die Bildung von etwa sieben Regionen bzw. Großkreisen forderte. In den darauffolgenden Jahren forderten sowohl die CDU-Oppostion im hessischen Landtag als auch die FDP wiederholt durchgreifende Maßnahmen zur territorialen Neugliederung, denen zunächst aber keine entsprechenden Maßnahmen der Landesregierung folgten. So scheiterte noch 1969 eine von der CDU geforderte Verbandsgemeindeordnung, mit der die Zusammenlegung benachbarter Gemeinden oder die Zusammenfassung einer "Kernstadt" mit deren Nachbargemeinden zu sogenannten Verbandsgemeinden und Verbandsstädten ermöglicht werden sollte.7

5. Beschluss einer umfassenden kommunalen Gebietsreform 1970

1970 beschloss die damalige hessische sozialliberale Landesregierung unter Ministerpräsident Albert Osswald (SPD) und Innenminister Hanns-Heinz Bielefeld (FDP) eine umfassende kommunale Verwaltungsreform, die zuvor als Bestandteil der Koalitionsverhandlungen vereinbart worden war. Hauptziel der Gebietsreform war, die in den zurückliegenden Jahrzehnten aufgrund des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses, entstandene Ungleichgewichtung zwischen den kommunalen Verwaltungseinheiten, die sich in außerordentlichen flächen- und einwohnermäßigen Unterschieden niederschlugen, zu entschärfen. Leistungsfähige und großräumige Verwaltungseinheiten bildeten dabei den notwendigen Ausgangspunkt für infrastruktureller Verbesserungen, die ihrerseits Voraussetzung zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in unterschiedlichen Landesteilen waren.8

6. Umsetzung in den 1970er-Jahren

Die Gebietsreform erfolgte schließlich in zwei Phasen: ab 1969 wurden freiwillige Zusammenschlüsse von Gemeinden durch das Gesetz über kommunale Gemeinschaftsarbeit gefördert. Zusätzliche Anreize wurden durch eine Neuregelung des kommunalen Finanzausgleichs und die Erhöhung der Schlüsselzuweisungen geschaffen. Bis zum 31.12.1971 verringerte sich daraufhin die Zahl der hessischen Gemeinden gegenüber 1969 (2.642) um nicht weniger als 1.409 auf 1.233. Dieser ersten Phase folgte in den Jahren 1972 bis 1977 die (zwangsweise) gesetzliche Neugliederung auf Gemeinde- und Kreisebene.

7. „Stadt Lahn“

Die Bildung einer „Stadt Lahn“ aus den rund 15 Kilometer voneinander entfernt liegenden Städten Gießen und Wetzlar bildete im Rahmen der landesweiten territorialen und funktionalen Neugliederung einen bis dahin einmaligen Versuch zur Schaffung einer künstlich zusammengelegten Großstadt, die den mittelhessischen Raum gegenüber den bestehenden Zentren Frankfurt am Main und Kassel stärken sollte. Das Projekt stieß jedoch auf den heftigen Widerstand der Bevölkerung in den betroffenen Kommunen, sodass die „Stadt Lahn“ nach nur 31 Monaten mit Wirkung zum 31. Juli 1979 rückgängig gemacht wurde.

Kai Umbach


  1. Wagener, Frido: Neubau der Verwaltung: Gliederung der öffentlichen Aufgaben und ihrer Träger nach Effektivität und Integrationswert (Schriftenreihe der Hochschule Speyer 41), 2. Aufl., Berlin 1974 (zugl.: Speyer, Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Habil.-Schr. 1968).
  2. Weber, Werner: Entspricht die gegenwärtige kommunale Struktur den Anforderungen der Raumordnung? Empfehlen sich gesetzgeberische Maßnahmen der Länder und des Bundes? Welchen Inhalt sollten sie haben? : Gutachten für den 45. Deutschen Juristentag 1964 in Karlsruhe [= Verhandlungen des fünfundvierzigsten Deutschen Juristentages: Bd. 1, Gutachten; Teil 5], München [u.a.] 1964.
  3. Delvos, Hubert: Für eine kommunale Flurbereinigung: Verwaltungsgrenzen haben keinen Ewigkeitswert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 17.05.1966, S. 13.
  4. Zit n. ebd.
  5. Karl Heinz Ernst war vom 1. Dezember 1970 bis zum 4. April 1999 Mitglied des Hessischen Landtags. Er amtierte von 1977 bis 1985 als stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion und vom 21. Februar 1984 bis zum 17. Februar 1987 als Vizepräsident des Landtags.
  6. Zit. n. Koenig, Johannes: Verwaltungsreform in Hessen 1945–1981: Ziele – Strategien – Akteure (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 151), Darmstadt 2006 (zugl.: Siegen, Univ., Diss., 2006), S. 481, schriftliche Korrespondenz Karl Heinz Ernsts an den Autor vom 16. März 2006.
  7. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 28.03.1969, S. 48: „In erster Lesung gescheitert“.
  8. Vgl. Hans Voit: Die kommunale Gebietsreform in Hessen, in: Erwin Stein (Hg.): 30 Jahre Hessische Verfassung: 1946–1976. Hg. im Auftrag der Hessischen Landesregierung und des Hessischen Landtags, Wiesbaden 1976, S. 366–387, hier S. 369.
Sachbegriffe
Eingemeindungen · Gebietsreformen · Kommunalreform ·
Einträge
  1. Eingemeindung von Oberrad, Niederrad und Seckbach nach Frankfurt, 1. Juli 1900
  2. Vergrößerung der Stadt Frankfurt durch Eingemeindungen und Auflösung des Landkreises Frankfurt, 1. April 1910
  3. Eingemeindungen in Wiesbaden und Frankfurt, 1. April 1928
  4. Auflösung von Gutsbezirken im Regierungsbezirk Kassel, 30. September 1928
  5. Kleinere Gebietsreform mit Anschluss Waldecks an Preußen, 1. April 1929
  6. Eingemeindung von Ockershausen nach Marburg, 1. Januar 1931
  7. Angliederung des Kreises Wetzlar an die Provinz Hessen-Nassau, 1. Oktober 1932
  8. Gesetz zur Bildung des Landkreises Bergstraße im Volksstaat Hessen, 7. April 1938
  9. Hessischer Landtag verabschiedet Gesetzentwurf über Landkreisgrenzenänderung, 23. Januar 1952
  10. Neue Landkreisordnung für Hessen verabschiedet, 25. Januar 1952
  11. Gesetz zum Zusammenschluss der Gemeinden Heuchelheim und Kinzenbach, 18. März 1967
  12. Sozialliberale Koalitionsvereinbarung beschließt umfassende Gebietsreform, 28. November 1970
  13. Konzept einer „Regionalstadt Frankfurt“ von Oberbürgermeister Walter Möller, 21. Januar 1971
  14. Neugliederung der hessischen Kreis- und Gemeindegrenzen, 11. Juli 1972
  15. Bildung der Stadt Lahn aus Gießen, Wetzlar und Nachbargemeinden, 1. Januar 1977
  16. 17. Hessentag 1977 in Dreieich, 18.-26. Juni 1977
  17. Stadt Lahn wird wieder aufgelöst, 1. August 1979
  18. CDU gewinnt bei Neuwahlen in Gießen, SPD in Wetzlar, 7. Oktober 1979
  19. Gesetz zur Einrichtung des Regierungsbezirks Mittelhessen mit Sitz in Gießen, 15. Oktober 1980