Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Topografie des Nationalsozialismus in Hessen

Weilmünster, Heil- und Pflegeanstalt

Weilmünster, Gemeinde Weilmünster, Landkreis Limburg-Weilburg | Historisches Ortslexikon
Klassifikation | Nutzungsgeschichte | Indizes | Nachweise | Abbildungen | Zitierweise
Klassifikation

Kategorie:

Verfolgung

Subkategorie:

Euthanasie 

Nutzungsgeschichte

Objektbeschreibung:

Die Gebäude der Heil- und Pflegeanstalt wurden im Pavillonstil entworfen und ab 1895 südöstlich angrenzend an Weilmünster errichtet. Alle Gebäude der symmetrisch gestalteten Gesamtanlage haben eine Ausrichtung nach Südwesten und staffeln sich in drei Reihen den Wellersberg hinauf. Im Zentrum stand das Verwaltungsgebäude, das Versorgungsgebäude und die Kapelle mit der Leichenhalle. Anhand dieser Achse erfolgte die geschlechtliche Trennung der Patientinnen und Patienten. Auf der linken Seite befanden sich die Stationshäuser F I bis F IV für Patientinnen, auf der baugleichen rechten Seite befanden sich die Stationshäuser M I bis M III für Patienten. Am südöstlichen Rand des bebauten Bereichs befand sich der anstaltseigene Gutshof.

Beschreibung:

Im Herbst 1933 erfolgte die Einrichtung der Landesheil- und Pflegeanstalt (LHA) in den Gebäuden des bisherigen Nassauischen Kindersanatoriums Weilmünster. Der Ergänzung des Rings der bisherigen Landesheilanstalten Idstein (Kalmenhof), Hadamar und Herborn lag der Wunsch nach weiteren Kostensenkungen in der Betreuung psychisch kranker Menschen zugrunde. Es ging nicht um die Ausdehnung oder Verbesserung der psychiatrischen Versorgung im Regierungsbezirk Wiesbaden. Durch die Personalpolitik des Anstaltsdezernenten des Bezirksverbands Nassau, Fritz Bernotat, kam es ab Mitte der 1930er Jahre zu einer rapiden Qualitätsverschlechterung im Pflegebereich in allen psychiatrischen Einrichtungen. 1936 hatten 99 Personen ein Dienstverhältnis in der LHA: 3 Ärzte (inkl. Anstaltsdirektor Dr. Ernst Schneider, 8 Personen im Verwaltungsbereich, 41 Pflegerinnen und Schwestern, 13 Pfleger, 11 technische Mitarbeiter, 14 Angestellte in der Hauswirtschaft, 5 in den landwirtschaftlichen Betrieben und 4 nicht näher beschriebene Angestellte. Dem gegenüber standen zu der Zeit etwa 1000 Patientinnen und Patienten. Da die Mitgliedschaft in der NSDAP immer wichtiger wurde, trat die fachliche Eignung des Pflegepersonals bei Einstellungen in den Hintergrund. Der Personalschlüssel verschlechterte sich zunehmend mit der stetigen Aufnahme von Patientinnen und Patienten, da es nicht in entsprechendem Umfang zu einer Erweiterung des Personalbestands gekommen ist. Im Prüfbericht des Jahres 1936 ist das Fassungsvermögen der LHA mit 1200 Personen angegeben, von Anstaltsdirektor Dr. Ernst Schneider wurden 1500 als noch tragbar angesehen.

Ab 1934 wurden an mindestens 278 Patientinnen und Patienten aus Weilmünster auch Zwangssterilisationen vorgenommen. Die Durchführung erfolgte 1934 bei Patientinnen in Wetzlar, bei Patienten in Weilburg. Ab 1935 erfolgten die Eingriffe bei beiden Geschlechtern in der eigens dafür eingerichteten Sterilisationsabteilung in Herborn, ehe die – nun zahlenmäßig wenigen – Unfruchtbarmachungen aus Kostengründen ab 1939 wieder in Weilburg stattfanden.

Die LHA in Weilmünster war auch eine der 25 auf dem Gebiet des Deutschen Reiches liegenden „Zwischenanstalten“, die der Organisation und der Verschleierung des zentralisierten Massenmords an über 70.000 Menschen dienten. Patientinnen und Patienten wurden in diesen Einrichtungen für eine gewisse Zeit aufgenommen und in den Jahren 1940 und 1941 in eine der Tötungsanstalten verbracht und ermordet. Ab Herbst 1941 wurde auch in den „Zwischenanstalten“ massenhaft gezielt gemordet. Wobei es in der LHA Weilmünster bereits 1940 mit 40 verstorbenen jüdischen Patientinnen und Patienten zu einer überdurchschnittlich hohen Todeszahl kam. Ein Indiz auf eine gezielte regionale und lokale Mordinitiative bereits vor dem Beginn der Phase des zentralisierten Massenmords.

Während der Phase des zentral verübten Morde wurden Patientinnen und Patienten zwischen Januar und August 1941 in Weilmünster, den vier weiteren hessisch-nassauischen Anstalten Eltville (Eichberg), Herborn, Idstein (Kalmenhof) und Scheuern sowie in Andernach, Galkhausen, Weinsberg und Wiesloch gesammelt und meist nach vier bis sechs Wochen in die Mordanstalt Hadamar transportiert. Dort wurden mehr als 10.000 von ihnen weitgehend am selben Tag getötet. Dafür wurden sie in den Keller geführt, wo sie in einem umfunktionierten Duschraum Kohlenmonoxid ausgesetzt wurden.

Zwischen Januar und März 1941 erfolgte zuerst die Ermordung von mehr als 750 Stammpatientinnen und -patienten aus Weilmünster in Hadamar. Darunter 92 jüdische Patientinnen und Patienten am 7. Februar. Insgesamt erfolgte eine Verschleppung nach Hadamar über die „Zwischenanstalt“ Weilmünster von etwa 3.000 Patientinnen und Patienten. Damit weist die LHA die höchste Opferzahl unter den genannten hessisch-nassauischen „Zwischenanstalten“ aus. Der Transport erfolgte mit Bussen der eigens für die „Aktion T4“ gegründeten „Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft mbH“ (Gekrat). Die Ursprungsanstalten Alzey, Haina, Heppenheim, Gießen, Goddelau, Göttingen, Marburg und Warstein, in denen die Menschen vor der Verlegung nach Weilmünster meist schon Jahre und Jahrzehnte untergebracht waren, lagen in größerer räumlicher Entfernung zur „Zwischenanstalt“. Dadurch sollte der Kontakt der Familien zu den Angehörigen in den psychiatrischen Einrichtungen und damit die Möglichkeit der Intervention erschwert werden.

Reichsweite Verlegungen nach Weilmünster erfolgten noch bis in den Herbst 1941, weil seitens der „T4“-Organisation eine Wiederaufnahme der Mordaktion vermutet wurde. Insgesamt 2.500 Aufnahmen hatte die LHA in 1941 zu verzeichnen und mit dem Stopp des Weitertransports nach Hadamar, blieben viele „Durchgangspatientinnen“ und „Durchgangspatienten“ zurück. Nach dem Ende der „Aktion T4“ im August 1941 ist für Weilmünster von gezielten Tötungen, u. a. mittels Hungerkost und überdosierter Medikamentengabe auszugehen. Etwa 3.000 weitere Menschen starben bis 1945. Zum Teil vor Ort. Zum Teil nach Wiederaufnahme von bezirksinternen Verlegungen nach Hadamar. Zwischen September 1943 und März 1945 gelangten wieder 1500 Menschen in die Tötungsanstalt.

Im Zuge der permanenten massiven Überbelegung verschlechterten sich die Zustände in Weilmünster. Patientinnen und Patienten waren den katastrophalen hygienischen Zuständen, Hunger, physischer wie psychischer Gewalt auf den Stationshäusern hilflos ausgesetzt.

Zwischen 1936 und 1944 starben mindestens 3.684 Patientinnen und Patienten der LHA Weilmünster.

Jahrdurchschnittliche
Belegungszahl
SterbefälleSterberate bezogen auf
Durchschnittsbelegung
1936948768,02 %
193798714714,89 %
1938150018612,40 %
1939173719111,00 %
1940157157836,79 %
1941150934823,06 %
1942145473350,41 %
1943161668942,64 %
1944165073644,61 %

Nutzungsanfang (früheste Erwähnung):

1933

Nutzungsende (späteste Erwähnung):

1945

Weitere Nutzungen des Objekts:

Nutzung vor NS-Zeit:

Vor 1933 war die Einrichtung ein Kindersanatorium gewesen. Ab Oktober 1933 war hier die Landesheil- und Pflegeanstalt eingerichtet worden.

Nutzung nach NS-Zeit:

Bis Anfang 1947 wurde das Militär-Lazarett weitergeführt. Dazu erfolgte 1946 die Einrichtung des Nassauischen Kindersanatoriums, das Kinder und Jugendliche, aber auch die Patientinnen und Patienten versorgte, die die NS-"Euthanasie" überlebt hatten. Heute ist dort mit dem Vitos Klinikum Weil-Lahn ein psychiatrisches Krankenhaus eingerichtet.

Indizes

Orte:

Weilmünster

Sachbegriffe:

Euthanasie · Gesundheitswesen · Verfolgung · Zwischenanstalten

Nachweise

Literatur:

Gedruckte Quellen:

Ungedruckte Quellen:

Weblinks:

Fachtagung: "'Zwischenanstalten'. Ein besonderer Typus Anstalt im NS"? (15.11.2023)

Gedenkort Kalmenhof e.V.: Gedenkbuch Weilmünster (31.5.2023)

(1.7.2022)Gedenkstunde des Deutschen Bundestages am 27. Januar 2017 - Vortrag eines Briefes von Ernst Putzki durch den Schauspieler Sebastian Urbanski: Video, Vortrag eines Briefes von Ernst Putzki durch den Schauspieler Sebastian Urbanski; Text, Vortrag eines Briefes von Ernst Putzki durch den Schauspieler Sebastian Urbanski

Landesamt für Denkmalpflege: "Psychiatrisches Landeskrankenhaus, Ehem. Irren-, Heil- und Pflegeanstalt" (1.7.2022)

Abbildungen

Abbildungen:

Zitierweise
„Weilmünster, Heil- und Pflegeanstalt“, in: Topographie des Nationalsozialismus in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/nstopo/id/95> (Stand: 18.2.2024)